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20 Jahre Steam: Der Dampf, der die Spielewelt veränderte​

René Meyer
Vilnius,,Lithuania,-,2022,July,6:,Steam,App,On,Pc

(Bild: Rokas Tenys/Shutterstock.com)

Am 12. September 2003 wird Steam zusammen mit "Counter-Strike 1.6" veröffentlicht. Die einst ungeliebte DRM-Fessel ist heute der wichtigste Shop für PC-Spiele.​

Wer auf der Gamescom [1] durch die Indie-Bereiche stromert, hat am Ende einen ganzen Stapel kleiner Kärtchen in der Hand – mit einem QR-Code und der Aufforderung "Wishlist now". Wofür die Wunschliste ist, muss man nicht erklären. Sie ist für Steam.

Mehr als 50.000 Spiele werden auf der Plattform angeboten. Jeden Tag kommen 30 neue dazu. Man spricht von rund 130 Millionen aktiven Spielern. Die meisten frönen "Counter-Strike" und "Dota 2". Dieser Tage halten "Baldur's Gate 3" [2] und "Starfield" [3] gut mit; doch der Langzeit-Sieger mit insgesamt 3,2 Millionen Spielern ist "PUBG: Battlegrounds".

Ob groß oder klein, gut oder schlecht – Steam hat sie alle. Die Kinderkrankheiten sind lange vorbei. Den Kopierschutz, der auch den Wiederverkauf verhindert, nimmt man hin. Man benötigt dafür keine Datenträger mehr, um Spiele zu installieren, was auch den Wechsel des PCs erleichtert. Und neuerdings lassen sich sogar Spielstände via Cloud auf verschiedenen Rechnern synchronisieren.

Hinter Steam ("Dampf") steckt das vergleichsweise kleine Unternehmen Valve ("Ventil"). Und hinter Valve steckt Gabe Newell. Er arbeitet 13 Jahre bei Microsoft unter anderem an Windows, bis ihm Ende 1995 klar wird, dass seine Zukunft woanders liegt: "Doom" von id Software mit seinen zwölf Mitarbeitern ist auf mehr PCs installiert als Windows von Microsoft, das zu jener Zeit 14.000 Mitarbeiter beschäftigt. Er verlässt die Firma, die ihn zum Millionär gemacht hat, und gründet eine Firma, die ihn zum Milliardär machen wird: Valve. Am 12. August 1996; am Tag seiner Hochzeit.

Newell ist ein riesiger Fan von "Doom", vermisst aber die erzählerische Komponente. Er rekrutiert Entwickler aus der Modding-Szene, den 3D-Modellierer von "Duke Nukem 3D", lizenziert die "Quake"-Engine und holt sich den Schriftsteller Marc Laidlaw. Am Ende findet man nach allerlei Irrwegen schließlich 1998 zu "Half-Life" [4]. Mit dem Helden Gordon Freeman, seinem ikonischen Brecheisen und dem minutenlangen Intro in Form einer Zugfahrt. Es verkauft sich allein als CD-Version mehr als neun Millionen Mal. Noch erfolgreicher wird ein Multiplayer-Mod: "Counter-Strike". Dessen Entwickler kauft sich Valve samt der Software.

Ab Mitte der Neunzigerjahre ebnet das Internet den Weg, weltweit mit- und gegeneinander zu spielen. Den Service, sich nicht nur mit dem PC eines Freundes zu verbinden, sondern sich mit Unbekannten zu messen, bieten neue Dienste wie DWANGO, Mplayer und GameSpy an. Valve setzt auf WON seines damaligen Publishers Sierra. Was jedoch fehlt, ist eine Plattform, die außerdem Spiele online verkauft und auf den Rechnern der Nutzer automatisch aktualisiert. Valve findet niemanden, der sie umsetzen will, und entwickelt ein eigenes System.

Am 22. März 2002 erscheint eine Beta-Version von Steam; am 12. September 2003 wird es ernst: Die neueste Version von "Counter-Strike", die berühmte Version 1.6, bekommt man nur mit einem Steam-Account. Dabei ist Steam am Anfang ein Fiasko. Voller Fehler und wenig stabil. Man nimmt es in Kauf, weil "Counter-Strike" so beliebt ist. Und gratis.

Die nächste Bewährungsprobe ist "Half-Life 2" [5], das auf der Basis einer eigenen Engine (Source) und mit reichlicher Verspätung Ende 2004 erscheint: Als erstes Vollpreis-Spiel verlangt es eine Online-Aktivierung via Steam. Das sorgt für reichlich Unmut. Nicht jeder Spieler hat einen Internet-Zugang, zuweilen bleibt es nicht bei der einmaligen Überprüfung, und vor allem: Das Spiel lässt sich nicht mehr weiterverkaufen. Das bringt deutsche Verbraucherschützer auf den Plan. Sierra, mittlerweile in Vivendi aufgegangen, muss auf der Verpackung genauer auf die Aktivierung hinweisen. Valve bietet keine Möglichkeit, das Spiel auf ein anderes Konto zu übertragen. Und heute ist keine Rede mehr davon.

"Half-Life 2" wird heute als eines der besten Spiele aller Zeiten angesehen. Doch zum Release gab es Kontroversen um die Steam-Anbindung.

(Bild: Valve)

Die Spieler machen es mit, notgedrungen, weil "Half-Life 2" so unbeschreiblich gut ist. Noch heute, zwei Jahrzehnte später, ist es im Metacritic-Ranking auf Platz 2 der besten PC-Spiele aller Zeiten. Nach "Disco Elysium" [6] und vor "Grand Theft Auto V". Und Steam wird besser. Nach und nach bringt Valve alle seine Spiele auf die Plattform. 2005 bietet Steam das erste Spiel eines anderen Entwicklers an: das schräge "Rag Doll Kung Fu". Zwei Jahre später sind es schon 150 Spiele. Immer mehr große Publisher setzen auf die Plattform, zumal der Steam-Key zugleich ein Kopierschutz ist. Heute kommt fast niemand mehr an Steam vorbei. Selbst Electronic Arts nicht, die sich zwischenzeitlich auf ihre eigene Plattform Origin zurückziehen. Selbst Blizzard nicht, deren "Overwatch 2" seit einigen Wochen auf Steam erhältlich ist [7].

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Valve entwickelt nicht nur die Plattform stetig weiter, sondern sucht immer wieder nach Wegen, Steam-Spiele auf Plattformen abseits des PCs anzubieten. Es gibt Clients für MacOS und Linux; es gibt SteamOS auf der Basis von Linux für eigene Hardware wie den Steam Controller und den Mini-PC Steam Machine (beide gefloppt). Und es gibt das neue Steam Deck [9], ein Handheld in der Anmutung der Switch-Konsole. Nicht zu vergessen: das VR-Headset Vive.

2017 streicht Stream den ungeliebten Greenlight-Prozess [10], bei dem die Community durch ihre Stimme über die Veröffentlichung eines Spiels entscheidet. Heute gibt es keine Auswahl mehr: Jeder kann gegen eine Gebühr von 100 Dollar sein Spiel anbieten. Vom Erlös der Verkäufe zieht sich Valve einen Anteil von typischerweise 30 Prozent ab [11].

Eva-Ramona Rohleder, die mit Kickstarter ihr Adventure "A Twisted Tale" finanziert und über Steam veröffentlicht, ist dankbar über die Plattform: "Steam macht es leicht, sein eigenes Spiel der breiten Masse zur Verfügung zu stellen – grundsätzlich. Das Einrichten habe ich als knifflig empfunden, die Plattform ist unübersichtlich, die FAQs helfen nur bedingt. Es kann viel Zeit und Nerven kosten, bis alles so eingerichtet ist, dass es auch wirklich funktioniert. Trotzdem überwiegt für mich der Vorteil, als Solo-Entwickler Zugang zu einem Publikum zu bekommen, das vor einigen Jahren kaum ohne Publisher zu erreichen wäre."

Freilich: Schon vor 30 Jahren gibt es zahllose Wege, seine Spiele unters Volk zu bringen. Über Cover-CDs von Zeitschriften, vernetzte Mailboxen und FTP-Server.

Und: Ohne Fleiß kein Preis, sagt Konrad Kunze vom Studio FusionPlay, Entwickler wie Publisher: "Für Indie-Entwickler ist Steam eine Chance und eine Challenge gleichzeitig. Schafft man es, einen kleinen Hit zu landen, kann Steam diesen Erfolg multiplizieren. Gelingt aus eigener Kraft aber kein Erfolg, dann lässt dich der Algorithmus eiskalt im Regen stehen."

Seiner Erfahrung nach orientiert sich die Präsenz eines Spiels auf Steam am Erfolg, nicht am Zufall oder an einer manuellen Auswahl. Und für den Erfolg sei der Entwickler (oder Publisher) verantwortlich. Ganz simpel: Verkauft sich ein Spiel gut, dann bekommt es eine gute Sichtbarkeit. Die Qualität spiele dabei keine Rolle. Manche hochwertige Spiele werden von der Presse und von Streamern übersehen, sodass sie auch bei Steam durch das Raster fallen.

Hinzu kommt die enorme Fülle an Spielen. Es reicht laut Kunze nicht mehr, einfach nur "gut" zu sein, um Aufmerksamkeit zu erzielen. In dieser Beziehung sei Steam mit anderen Plattformen wie Amazon oder Ebay vergleichbar.

Auch für den langjährigen PR-Profi Dieter Marchsreiter trägt der Entwickler selbst entscheidend für den Erfolg auf Steam bei. Events wie das Steam Next Fest, das auf kommende Spiele hinweist (wieder vom 9. bis 16. Oktober 2023), größere Updates als PR-Meldung und Publisher-Sales einerseits und eine perfekt gepflegte Steam-Page andererseits seien ein Schlüssel zum Erfolg. Gerade für PC-Spiele (ohne Konsolen-Versionen mit den jeweiligen Shops) ist Steam laut Marchsreiter es wichtigste Verkaufsschaufenster weltweit.

Daher seien die Beschreibung, Positionierung inklusive Hashtags, die Angabe und Implementierung aller gängigen Sprachen in guten Absatzmärkten mit großer Bevölkerung (englisch, deutsch, chinesisch, französisch, spanisch, brasilianisch/portugiesisch, polnisch, italienisch, russisch, koreanisch und japanisch) sowie regelmäßige Updates und Aktionen essenzielles Marketing.

Für die PR-Branche ist Steam ein Segen. Marchsreiter sehnt sich nicht nach den Zeiten zurück, als sich Hunderte von Testmustern im Büro und im Keller stapelten, ganz früher noch als große Pappboxen, um sie mühsam zur Post zu fahren.

Keys haben den Prozess digitalisiert. Auch der weltweite Versand ist ein Kinderspiel geworden. Teilweise sind die Codes mit exakten Versionen verknüpft und lassen sich auch deaktivieren. Mittlerweile gibt es Dienstleister wie Keymailer, die den Versand von Keys automatisieren. Sie gehen ja nicht nur an Journalisten, sondern auch (und häufig: mehr) an Streamer und andere Content Creators.

Weil Steam-Keys so omnipräsent sind, werden oft sogar Retail-Videospiele im Laden ohne Disc verkauft. Stattdessen wird im Inneren der Box der Key abgedruckt. Darüber sind nicht alle glücklich. Jasmin Gerhardt vom Leipziger Ladengeschäft RETRO Games kann DRM-Spielen in Plastikhüllen aber nichts abgewinnen: "Für mich wird es immer ein Rätsel bleiben, warum sich Steam-Nutzer im Geschäft leere Boxen oder sogar leere Disks kaufen, wenn man das Spiel trotzdem downloaden muss. Für mich ist es frustrierend, einigermaßen aktuelle PC-Spiele nicht an- und verkaufen zu können, da sie an Einmalcodes und Accounts gebunden sind. Meist wird das den Besitzern erst beim Versuch des Verkaufs bewusst."

Patrick Becher vom Retro-Spiele-Club, einem "bespielbaren Museum" in Hamburg, denkt auch an das kulturelle Erbe: "Individuelle Sammlerstücke werden wertlos. Wenn es wenigstens eine Verpackung gibt, hat man immerhin etwas in der Hand; alles andere wird irgendwann im digitalen Nirwana verschwinden. Wir bevorzugen DRM-freie Plattformen wie GOG, wenn es schon digital sein muss, da wir uns nicht darauf verlassen möchten, dass ein Dienst ewig bestehen bleibt."

"Irgendwann in der Zukunft wird es wohl in der Geschichte der Spiele eine große Lücke geben, wegen der an Firmen gebundenen Titel, die nachfolgenden Generationen nicht mehr auf einfachem Weg gezeigt werden können", sagt Becher weiter. Er hofft auf eine Archivierungspflicht für digitale Güter.

Doch im Moment ist Steam kerngesund. Was die Valve-Plattform eingeleitet hat, trifft mittlerweile auch die Konsolen – sie haben ähnliche Shops, in denen Spiele immer häufiger rein digital gekauft werden. Die Ära der Silberscheiben geht vorbei [12], zumal neue PCs in der Regel ohne Laufwerk angeboten werden. Man liest mitunter, dass Steam bei einem möglichen Aus der Plattform eine Lösung für bereits gekaufte Spiele anbieten würde. Aber der Zugriff auf die gesamte Datenbank wäre wohl verloren. Und damit der Zugriff auf viele, viele Spiele, die von kleinen Studios kommen, die ihre Werke nur auf Steam anbieten. Am Ende wird es wohl wieder die Community richten müssen, um wie bereits bei den Heimcomputern "graue" Archive von PC-Spielen für die Nachwelt aufzubauen.

(dahe [13])


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[1] https://www.heise.de/news/Messefazit-Die-Tops-und-Flops-der-Gamescom-9284313.html
[2] https://www.heise.de/hintergrund/Baldur-s-Gate-3-Eine-Anomalie-auch-dank-Early-Access-9236619.html
[3] https://www.heise.de/meinung/Starfield-im-Test-Entschleunigte-Abenteuer-im-Sternenfeld-9290915.html
[4] https://www.heise.de/news/Alle-Half-Life-Ableger-kostenlos-auf-Steam-4643986.html
[5] https://www.heise.de/news/Modder-bohren-Half-Life-2-mit-RTX-Grafik-auf-9280070.html
[6] https://www.heise.de/news/Disco-Elysium-durchgespielt-Eine-Frage-haette-ich-da-noch-4585158.html
[7] https://www.heise.de/news/Review-Bombing-Overwatch-2-wird-zum-schlechtesten-Spiel-auf-Steam-9243045.html
[8] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[9] https://www.heise.de/news/Steam-Deck-Generalueberholte-Modelle-gibt-es-verguenstigt-9238738.html
[10] https://www.heise.de/news/Steam-Valve-stampft-Greenlight-ein-3623262.html
[11] https://www.heise.de/news/Monopol-von-Steam-Klage-von-Wolfire-gegen-Valve-abgewiesen-6277469.html
[12] https://www.heise.de/hintergrund/40-Jahre-CD-Die-Compact-Disc-feiert-Jubilaeum-7199746.html
[13] mailto:dahe@heise.de