40 Jahre VPS: Schluss mit den Überziehern!

Seit Ende der 1970er befreiten Videorekorder TV-Fans vom Korsett der Sendezeiten. Aber oft landeten die falschen Sendungen auf der Kassette. Dann kam VPS.​

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 201 Kommentare lesen

(Bild: Philips)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Karl-Gerhard Haas
Inhaltsverzeichnis

Die westliche Welt in den frühen 1980ern: In vielen Ländern sind zwei bis drei TV-Programme zu empfangen, die vormittags einen Teil des Programms des letzten Abends wiederholen, Mittagspause machen und nach Mitternacht nur noch ein Testbild ausstrahlen – Mediatheken und Streaming waren noch nicht erfunden. Ein klein wenig Unabhängigkeit vom starren Sendeschema schaffen die 1976 erfolgreich gestarteten Videorekorder im VHS- oder Betamax-Format. Je nach zugrundeliegendem TV-Standard passen auf eine Kassette zwei bis über drei Stunden in passabler Qualität. Die Gerätschaften werden als "time-shifting machines" beworben, also als Mittel zum zeitversetzten Fernsehen.

So praktisch die Technik ist – sie hat eine Schwäche. Die Aufnahme der Sendung, die man zu einem späteren Zeitpunkt sehen will, richtet sich stur nach einer zuvor programmierten Schaltuhr. Wird eine Sondersendung ins Programm gehoben oder dauert die Show vor dem Spielfilm länger als geplant, fehlt der Schluss vom Film. Das war nicht nur ein theoretisches Problem: Hans-Joachim Kulenkampff, Frank Elstner, Joachim Fuchsberger und Thomas Gottschalk galten mit "Einer wird gewinnen", Auf Los geht’s los" oder "Wetten, dass…?" als die großen Überzieher des bundesrepublikanischen Fernsehens. Eine halbe Stunde und mehr waren keine Seltenheit, Kulenkampff hielt lange mit 75 Minuten den Rekord. Schlaue Besitzer von Videorekordern berücksichtigten dies natürlich und schlugen beim Programmieren der Aufnahmen zur eigentlichen Sendezeit mehrere Minuten hinzu. Aber Vorkommen und Länge der Überzieher waren schlicht nicht planbar. Wollte man einen zweiten Film aufnehmen, reichte die Kapazität der Kassette oft nicht, wenn man mit Reserven kalkulierte.

In Großbritannien wie Deutschland wollte man diesen Ärger beseitigen. Auf der Insel entwickelte man PDC (Programme Delivery Control), in Deutschland tüftelte maßgeblich das Münchner Institut für Rundfunktechnik (IRT) am technisch verwandten VPS, dem Video-Programm-System (alternativ englisch Video Programming System). Das feiert diesen Monat den 40. Geburtstag, in die ersten Videorekorder wurde es 1985 integriert. Für viele ältere Geräte gab es Nachrüstdekoder, die aparterweise immer noch auf den Gebrauchtmärkten kursieren.

Zwar tippten die Nutzer mit VPS wie gehabt Anfangs- und Endzeiten der Sendung, die sie aufzeichnen wollten. Tatsächlich gaben sie aber die Daten eines Etiketts ein, welches die TV-Sender mit dem jeweiligen Programm in der Austastlücke sendeten. Die Elektronik im Videorekorder hielt auf dem programmierten TV-Kanal nach dem Etikett Ausschau und startete die Aufnahme erst, wenn es empfangen wurde. Und auch das Aufzeichnungsende richtete sich nach dem tatsächlichen Schluss einer Sendung und nicht stur nach der geplanten Zeit.

Beispiel aus dem Timer-Menü eines Panasonic-DVD-Rekorders – rechts legt man fest, ob die Aufnahme per VPS gesteuert werden soll.

(Bild: Panasonic)

Von routinierten Videorekorder-Besitzern forderte dies Umdenken: Die bisher üblichen Zeitzugaben waren plötzlich tabu, wer nicht sklavisch die offiziellen Sendungsdaten zum Programmieren der Aufnahme verwendete – und zwar für jede Sendung getrennt –, hielt am nächsten Tag eine leere Kassette in Händen. Auch bei den Rekorder-Herstellern gab es Verwirrung: Eigentlich sollten die Geräte die Aufnahme starten, wenn für eine Sendung Anfangs- und Endzeiten eingegeben wurden, ein TV-Kanal aber kein VPS unterstützt. An vielen Rekordern musste man dennoch in den Programmiermenüs explizit VPS für die jeweilige Aufnahme deaktivieren – sonst blieb einmal mehr die Kassette leer und außer Schneegestöber war nichts zu sehen. Schließlich taten noch die TV-Sender ihr Übriges: Als ARD und ZDF ihre Satellitenkanäle 3Sat und 1plus starteten, hakte die Technik. 3Sat strahlte jahrelang nur eine digitale Senderkennung aus, die zwar Teil des VPS-Signals ist, aber eben nicht die Aufnahmesteuerung übernimmt. Dummerweise zeigten viele Videorekorder dennoch "VPS" in ihren Displays an, woraufhin die Nutzer sich auf den nicht existierenden Dienst verließen. 1Plus unterstützte VPS zwar im Prinzip, der Sender war aber lange berüchtigt für verspätete Übermittlung der Etiketten, was ebenfalls zu verunglückten Aufnahmen führte.

Das bei VPS federführende Institut für Rundfunktechnik war die Forschungseinrichtung der öffentlich-rechtlichen Sender des deutschsprachigen Raums. Während die Gebührensender in Deutschland, Österreich und der Schweiz VPS und seine aktuellen Nachfolger recht zuverlässig unterstützen, taten es die meisten Privat-TV-Stationen nie – oder nur halbherzig. Technisch ist es beispielsweise kein Problem, die Mitschnitte in den Werbepausen anzuhalten. Aber da angeblich auch die Werbung wirkt, die man im schnellen Vorlauf sieht, verzichtete etwa Sat.1 auf diesen Service.

Die Austastlücke existiert nur in analogen TV-Signalen – mit dem Wechsel auf digitale Ausstrahlung fiel der Dienst zunächst flach. Da beim Umstieg auf Digital-TV aber immer noch viele Zuschauer mit VHS- oder DVD-Recordern ihre Lieblingssendungen mitschnitten, wurden die Sendungsetiketten jetzt unter dem englischen Begriff PDC Teil des digitalen Datenstroms und von den Set-Top-Boxen wieder als VPS-Signal mit dem analogen TV-Bild ausgegeben. Probleme konnte es geben, wenn die Rekorder über den Scart-Kontakt keine VPS-Signale auswerteten.

Für VPS wurden 1985 Dr. Eckard Krüger, Dr. U. Kraus und Diplom-Ingenieur Arthur Heller mit dem Eduard-Rhein-Preis ausgezeichnet, im letzten tatsächlich erteilten Patent werden neben Heller die IRT-Ingenieure Andreas Ebner, Herbert Hofmann und Klaus Schuster genannt. Wer es sicher nicht war, ist ein in der englischen und deutschen Wikipedia als Erfinder benannter Mit-hat Sheqerolli. Zwar wurde tatsächlich unter diesem Namen ein inhaltlich und sprachlich überaus dürrer Patentantrag für einen "Laufzeitregler für die Aufzeichnung von Fernsehprogrammen mit Video-Recorder" beim Deutschen Patentamt eingereicht. Der wurde aber nie zum Patent – und so dürftig, wie sich das Pamphlet liest, wäre es wohl auch nie patentiert worden.

Klassische Videorekorder – gleich, ob mit Band oder DVD – sind aus der Mode gekommen. Für diejenigen, die tatsächlich noch Sendungen mitschneiden, sind zwischenzeitlich Festplatten das Medium der Wahl. Zwar unterstützen die Gebührensender nach wie vor bei DVB die digitalen VPS-Nachfolger – aber wirklich wichtig ist die Funktion nicht mehr. Für die selten gewordenen Überzieher hätte jede Festplatte mehrere Stunden Reserve. Wenn man beim Programmieren von Aufnahmezeiten etwas Luft einplant, kann man überflüssige Schnipsel anderer Sendungen nachträglich verlustfrei löschen.

(dahe)