Geese gegen Google: Die EU gegen die mächtigste Suchmaschine der Welt

Der in der EU beschlossene Digital Services Act ist nun das wichtigste Internetgesetz der Welt. Aber wie genau entstehen Gesetze auf EU-Ebene eigentlich?

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, Foto: Andreas Endermann

(Bild: Andreas Endermann)

Lesezeit: 23 Min.
Von
  • Jan Vollmer
Inhaltsverzeichnis

Der fensterlose Saal des EU-Parlaments in Straßburg ist fast leer. Über den blauen Sitzen, den 27 Fahnen und über den Köpfen der Anwesenden spricht eine griechische Abgeordnete, remote, überlebensgroß, vor einer Leinwand. Gelegentlich schaut sie von ihrem Blatt auf in die Kamera, ihre Stimme hallt durch den Saal.

Das Thema der Debatte ist Cyber-Violence – digitale Gewalt gegen Frauen im Internet. Eigentlich geht es nur um einen Report, eine Bestandsaufnahme zum Thema, zu dem die EU dann auch Vorschläge macht. Um 18:19 Uhr aber tritt die Grünen-Abgeordnete Alexandra Geese für ihre 60-Sekunden-Rede ans Mikrofon, eine hochgewachsene Frau mit braunen Haaren, weißem Rollkragenpullover und dunkelgrauem Jacket: "Einer besonders perfiden Form von sexueller Gewalt im Internet können wir schon heute Abend ein Ende setzen, nämlich dem Hochladen von Nacktbildern auf Pornoplattformen gegen den Willen des Opfers", sagt Geese. "Wir stimmen nämlich heute Abend im IMCO-Ausschuss über einen Kompromiss ab, mit dem wir dieser unsäglichen Form von Gewalt im Internet mit dem Digital Services Act entgegentreten können."


Diese Reportage enstand im Januar 2022 und wurde veröffentlicht in der Ausgabe 03/2022 von MIT Technology Review.


Dieser Text stammt aus: Technology Review 3/2022

(Bild: 

Technology Review 3/2022 im heise shop

)

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IMCO ist die Abkürzung für den Binnenmarktausschuss. Eigentlich geht es gerade nicht um den IMCO-Ausschuss und den Digital Services Act. Aber Geese nutzt die Gelegenheit und will Nägel mit Köpfen machen: Sie versucht so, in der Debatte über den Cyber-Violence-Bericht für ein verwandtes, aber anderes Thema zu werben: ihre Anträge im Digital Services Act. Ein ungewöhnlicher Schritt im bürokratischen Straßburg. Genervte Blicke und Kopfschütteln im Plenum. Einige männliche Abgeordnete wie Nicolaus Fest – früher bei der Bild-Zeitung, heute bei der AfD – finden schon den EU-Report zu Cyber-Violence "gefährlich" und neue Regeln "überflüssig".

Wenn Geese sich aber mit ihrer Änderung zu Artikel 24b im Digital Services Act durchsetzt, müssen Nutzerinnen und Nutzer auf Pornoplattformen eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer angeben, bevor sie Material hochladen. Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation Hate Aid fürchten 30 Prozent der 2.000 befragten Frauen, dass echtes oder gefälschtes Bildmaterial von ihnen im Netz landet. Eine Untersuchung fand allein in Großbritannien 18.700 Fälle innerhalb von drei Jahren. Einen gewissen Prozentsatz der Täter dürfte Artikel 24b abschrecken.

Alexandra Geese geht es aber um mehr als digitale Gewalt gegen Frauen. Sie ist Schatten-Berichterstatterin für den Digital Services Act und organisiert die Änderungsanträge ihrer Fraktion zu diesem Gesetzesvorhaben. Geese will das beenden, was auch Überwachungskapitalismus genannt wird: Ein Internet, in dem die großen Plattformen mit den persönlichen Daten der Nutzer Milliarden verdienen.

Weil die EU maßgeblich Gesetze für 27 Staaten macht, ist sie auch eine der größten Regulatorinnen der Welt. Mehr als 20 Jahre nach dem letzten großen Digital-Gesetz, der E-Commerce-Richtlinie von 2000, will die Staatengemeinschaft jetzt die mächtigsten Konzerne des Internets regulieren. Allen voran: Google und Meta mit ihren Werbeimperien, mit ihren Plattformen YouTube, Facebook, WhatsApp und Instagram. Meta hat mit all seinen Netzwerken, mit Facebook, Instagram und WhatsApp, Strukturen geschaffen, über die monatlich 3,6 Milliarden Menschen miteinander kommunizieren. Googles Algorithmen bestimmen die Ergebnisse von rund 90 Prozent der Suchanfragen im Internet. Wenn die EU Big Tech regulieren will, ist es, als würden Wolkenfronten aufeinandertreffen: groß, undurchschaubar, aber das Wetter betrifft uns alle.

Geese beendet ihre Rede im Parlament mit einem Appell an die EVP, die mächtige Fraktion der Konservativen: "Wenn es heute Abend nicht reicht, dann helfen Sie uns, eine Mehrheit im Plenum im Januar zu organisieren. Denn wir haben es mit dem Digital Services Act schon in der Hand." Für Alexandra Geese und den DSA stehen zwei wichtige Abstimmungen an: Erst wird im IMCO-Ausschuss über die Änderungsanträge der Fraktionen abgestimmt. Dann nimmt das Europa-Parlament den Vorschlag des Ausschusses in einer Abstimmung an. In aller Regel folgt das Parlament den Vorschlägen der Ausschüsse.

Als Geese nach der Debatte den Saal verlässt, steuert eine Frau auf sie zu: Die irische Abgeordnete Frances Fitzgerald, blond, mit dunkelblauem Blazer, goldenen Broschen und einer dunklen Brille, deren Ecken leicht nach oben gezogen sind. Die beiden Frauen begrüßen sich lächelnd, wie alte Kolleginnen. "Interesting, what you just said, I didn’t know …", sagt Fitzgerald. "Yes, you should have a look, the vote is tonight", antwortet Geese aufmunternd.

Fitzgerald und sie haben schon mal zusammengearbeitet, erzählt Geese, während sie mit langen Schritten über das Parkett des Parlamentsgebäudes in Richtung ihres Büros eilt. Das war 2020, während die EU ein 750-Milliarden-Corona-Aufbau-Programm auflegte – 380 Milliarden Euro mehr, als der deutsche Haushalt in diesem Jahr umfasste. Wirtschaftlich hat die Coronakrise Frauen härter getroffen als Männer: In Deutschland haben 19 Prozent der Mütter in der Pandemie ihre Arbeitszeit reduziert, im Vergleich zu nur fünf Prozent der Männer. Trotzdem sollten 80 Prozent des Aufbaufonds an Branchen gehen, in denen vor allem Männer arbeiten. Für Geese inakzeptabel: "Da hat sie als einzige mit unterstützt von der konservativen Seite. Sie is ’ne toughe, ich mag sie."

Die Anekdote mit Fitzgerald zeigt: Das Europäische Parlament ist durchzogen von unterschwelligen Allianzen – und Fehden. Auf dem Weg zu ihrem Büro kommt Geese auch Andreas Schwab mit einer Entourage aus Mitarbeitenden und Journalisten entgegen; ein CDU-Abgeordneter aus Freiburg mit glattrasiertem Gesicht, gut sitzendem Anzug, seit 17 Jahren im Parlament. Im Gehen spricht er ein Interview in ein Mikrofon. Schwab ist einer der einflussreichsten Digitalpolitiker der EVP, einer, der Mehrheiten organisieren kann. Schwab und Geese kennen sich natürlich – aber gehen aneinander vorbei.

Der Weg vom Plenarsaal zu Geeses Büro führt vorbei an den vielen Bistros des Hauses und auf einer Brücke über den Fluss Ill. Man könnte die dunklen Wellen beobachten oder die Schiffe auf Stadtrundfahrt. Aber nur selten bleibt jemand stehen. An der Tür klebt neben Geeses Namensschild ein Sticker mit einem geflügelten Herz und einem Banner mit Nullen und Einsen darauf: Das Symbol von Heart of Code, eines feministischen Hackerkollektivs aus Berlin mit dem Slogan „Liberté – Digitalité – Sœurité“, übersetzt: Freiheit – Digitalität – Schwesternschaft.

Alexandra Geese sitzt für die Grünen im EU-Parlament und ist Schattenberichterstatterin zum Digital Services Act. Das bedeutet, dass sie die Änderungsanträge ihrer Fraktion zu diesem Gesetzesvorhaben organisiert.

(Bild: ddp/Geisler/Dwi Anoraganingrum)

Geeses Mitarbeiterin Jana Gooth sitzt am Schreibtisch und schaut auf ein iPad. Die Juristin trägt Pullover und Jeans, die Haare hochgesteckt. Hinter ihr an der Wand lehnt das Longboard, mit dem sie morgens ins Parlament fährt. Geese sind ausgerechnet in der Woche der Ausschussabstimmung alle Kontakte aus dem Handy verschwunden. "Die Währung in der Politik", sagt sie, während sie durch die Nachrichten in ihrem Handy scrollt, über denen jetzt nur Nummern stehen. Zusammen mit Gooth überlegt sie, wem sie für die Abstimmung am Abend noch eine Nachricht schreiben kann.

Als Geese in ihr Büro geht, erklärt Jana Gooth, wie der DSA zustande kommt: Erst lässt die EU-Kommission in einer ihrer Abteilungen einen Entwurf schreiben. Im Binnenmarktausschuss schlagen die Abgeordneten ihre Änderungen vor. Eine Berichterstatterin formt daraus einen mehrheitsfähigen Kompromissvorschlag. Erst stimmt der IMCO-Ausschuss selbst darüber ab, dann, ein paar Wochen später, das Parlament. Danach geht der Gesetzesentwurf in den sogenannten Trilog, in dem Vertreter des Parlaments den Gesetzesentwurf noch mal mit Vertretern und Vertreterinnen der Mitgliedsstaaten verhandeln.

Für die Abgeordneten heißt das: Sie müssen Allianzen schmieden, Deals abschließen. Andreas Schwab von der konservativen EVP ist Berichterstatter für den Digital Markets Act geworden. Christl Schaldemose von der sozialdemokratischen S&D hat den Job als Berichterstatterin für den Digital Services Act bekommen. Wer einen Änderungsantrag zu einem Artikel durchkriegen will, muss den anderen Fraktionen etwas anbieten, was sie dafür bekommen. Manche Regeln sind nirgendwo aufgeschrieben. "Gelebte Praxis", sagt Jana Gooth, lächelt und zuckt mit den Schultern.

Der Moment, auf den Geese wochenlang hingearbeitet hat, in dem der IMCO-Ausschuss über die Änderungsanträge aller Fraktionen zu dem DSA abstimmt, findet remote statt: Geese klickt an ihrem Bildschirm die Änderungsanträge durch, auf einen grünen Button für annehmen, einen gelben Button für Enthaltung und einen roten Button für ablehnen. Dann schnappt sie sich ihre Handtasche und will los zur Frasi, der Fraktionssitzung. "Das war der große Moment", sagt Gooth und schaut Geese an, die schon in der Tür steht. "Ich weiß, wenig feierlich, aber das holen wir nach", sagt Geese, lächelt und geht. Gooth macht das, was auf Social Media ein Shruggie wäre (¯\_()_/¯) – sie zuckt mit den Schultern. Für Gefühle ist keine Zeit. Bis 23:15 Uhr wird Geese an diesem Abend im Parlament bleiben, Anfragen beantworten, Abgeordneten schreiben, Interviews geben.

Am nächsten Morgen um acht Uhr holt Geese sich in einem Parlamentsbistro den ersten Kaffee des Tages. Die Ergebnisse der Abstimmung sind da. Der Artikel 24b gegen bildbasierte sexuelle Gewalt, für den sie im Parlament geworben hat, ist durchgekommen. Er ist jetzt Teil des Kompromissvorschlags des IMCO. Wenn er es auch durch die Abstimmung im Parlament und durch den Trilog schafft, wird er Gesetz für die ganze EU. "Ich weiß, die EU ist kompliziert und unsexy. Unsexy – aber spektakulär! Hier einigen sich 27 Staaten auf ein Gesetz. Staaten, die sich früher bekriegt haben", erzählt sie auf dem Weg zu einer Pressekonferenz mit Christl Schaldemose, der Berichterstatterin.

Über die EU werden viele Witze gemacht: über die Bürokratie, über die zähen Prozesse, über die unzähligen Normen. Schon das Gebäude erinnert an das Brettspiel Das verrückte Labyrinth: Manche Rolltreppen überspringen eine Etage, gelegentlich trifft man Abgeordnete, die ihre eigenen Büros nicht finden. Die 60-Sekunden-Reden, im monotonen Sprech von 23 Übersetzern, allgegenwärtig auf Bildschirme im ganzen Haus übertragen, schaffen die Atmosphäre einer multimedialen Kunstinstallation. Die Parlamentarier, Mitarbeiter und Lobbyisten in ihren Anzügen und Kostümen, mit ihren Aktentaschen und Handys, sind immer auf dem Weg irgendwohin, schreiben noch schnell jemandem, nicken kurz, müssen weiter. Sie müssen die Politikmaschine am Laufen halten, in der sie Rädchen sind.

Das Europäische Parlament ist eine Welt für sich. Hier regeln 27 Staaten ihre Angelegenheiten. EU-Parlamentarierin Alexandra Geese ist mittendrin.

(Bild: mauritius images / olrat / Alamy)

Zwischen dem Pappaufsteller von Winston Churchill und dem Sprachengewirr in den Cafés spürt man aber auch das, was Geese spektakulär findet: Wie außergewöhnlich es ist, dass 27 Staaten hier ihre Angelegenheiten bürokratisch regeln, in einem professionellen Politbetrieb, so fremd, kompliziert und langwierig er sich auch anfühlen mag.

In derselben Woche, in der der IMCO-Ausschuss über den DSA abstimmt, wird im Parlament übrigens auch über die Lage in der Ukraine debattiert: Krieg steht im Raum, die russische Invasion mit über hunderttausend Soldaten – undenkbar innerhalb der EU. Die Tochter des russischen Oppositionellen Alexey Nawalny ist zu Besuch in Straßburg. Die 21-Jährige nimmt einen Preis für ihren Vater entgegen, den er selbst nicht entgegennehmen kann, weil er in einem russischen Gefängnis sitzt. Die Abgeordneten wirken bewegt von ihrer Rede.

Nach der Pressekonferenz will Geese frische Luft schnappen und sich Zahnpasta kaufen, sie hat ihre in Brüssel vergessen. Der Park vor dem Parlament ist dunkel, das Knirschen der Schritte auf dem Schotter verliert sich im Nebel zusammen mit dem Licht der Straßenlaternen. Während sie zwei Runden im Park dreht, erzählt sie, was sie antreibt: Ihre Mutter hat mit 14 Jahren angefangen zu arbeiten und wurde eine geschiedene, stolze Friseurmeisterin. "Dass ich Abitur machen durfte, galt schon als Sensation", sagt Geese. Als Jugendliche sei sie auf Demos gegangen, gegen Atomkraftwerke und den Nato-Doppelbeschluss. Mit 19 zieht sie nach Italien und arbeitet dort 22 Jahre als Dolmetscherin. Neben ihrem Job erzieht sie alleine zwei Kinder, macht zwei Uni-Abschlüsse. 2010, mit Anfang 40, geht sie zurück nach Deutschland, setzt sich noch mal in den Hörsaal "zwischen lauter 25-Jährige…" und macht noch einen Master im Konferenzdolmetschen, tritt den Grünen bei. 2015 kriegt sie einen Job als Dolmetscherin bei der Europäischen Union. Bei der nächsten EU-Wahl, 2019, kandidiert sie auf Listenplatz 17 und schafft es als Abgeordnete ins Parlament.

Fast schon bezeichnend sind die vielen Flure im Parlamentsgebäude der EU. Vor allem auf Neulinge wirkt die Innenarchitektur unübersichtlich, nicht wenige verlaufen sich.

(Bild: European Union 2019, Mathieu Cugnot)

Mit ihrem Lebenslauf ist sie eine Ausnahme in einem EU-Parlament, in dem rund 60 Prozent Männer sitzen, in dem ein Viertel der Abgeordneten einen Doktortitel hat und das sich "generell aus den oberen Kategorien des sozialen Raums" zusammensetzt, wie eine Studie der Universität Lyon und Straßburg von 2013 es formuliert. "Ich bin nicht mit einer Bibliothek im Wohnzimmer aufgewachsen, deswegen fand ich das Internet so cool. Als ich dann gemerkt habe, dass das umschlägt, dass Leuten wie mir der Zugang verwehrt wird, war das ein Schock", erzählt sie. Vor allem Frauen, so die Hate Aid Studie, ziehen sich aus Angst vor Attacken von Social Media zurück. Das große Thema der 2010er-Jahre aber war Datenschutz. Auf Konferenzen ihrer Partei seien "soziale Netzwerke null thematisiert worden. Und ich dachte mir: Da kann ich noch was tun", so Geese.

Anfang 2018, als Geese im Europaparlament dolmetschte, hat Facebook seinen Algorithmus aktualisiert, um Posts mit "bedeutungsvoller Interaktion" hervorzuheben. "Bedeutungsvoll" definierten Facebooks Mitarbeitende mit einem Punktesystem: Ein Like war einen Punkt wert, Reaktionen und Reshares fünf Punkte, kürzere Kommentare 15 Punkte, längere 30 Punkte. Das Problem ist nur: Posts, die Wut, Angst und Streit verursachen, funktionieren in dieser Punkte-Metrik am besten. "Desinformation, Giftigkeit [engl. "toxicity"] und gewalttätige Inhalte sind unter den Reshares überdurchschnittlich häufig", stellte ein internes Dokument von Facebook fest, das die Whistleblowerin Frances Haugen im Oktober veröffentlichte.

Lichtdurchflutet und mit viel Grün: auf der einen Seite verworren, auf der anderen Seite aber auch wunderschön – ein Blick ins Innere des Parlamentsgebäudes.

(Bild: European Union 2019, Michel Christen)

Facebooks Chefetage weiß, dass es weltweit Schaden anrichtet. "Wir haben Beweise aus einer Reihe von Quellen, dass Hassrede, spaltende politische Rede und Missinformation auf Facebook […] Gesellschaften rund um die Welt beeinflusst", so ein geleaktes internes Papier. Nur: Die Zahlen des "Meaningful-interaction"-Update waren Mark Zuckerberg so wichtig, dass laut Berichten sogar die Boni von Mitarbeitenden daran gekoppelt wurden. "[Facebook] bezahlt für seine Profite mit unserer Sicherheit", sagte Frances Haugen in einem Interview. In anderen Worten: Facebook ist eine digitale Hassmaschine für seine monatlich 2,9 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer geworden.

Personalisierte Werbung ist der wirtschaftliche Kern dieses Geschäfts. Wenn personalisierte Werbung verboten wäre, hätten die Netzwerke weniger Anreiz, so viele Daten zu sammeln. Wenn Facebook weniger Daten über seine Nutzerinnen und Nutzer hätte, wären diese nicht so anfällig für das, was ihnen die Algorithmen zielgenau vorschlagen. In frühen Entwürfen des DSA war ein Verbot von personalisierter Werbung vorgesehen. Nur: Im IMCO-Ausschuss ist dieses Verbot erst mal durchgefallen.

"Was es aber in den DSA geschafft hat, sind Dinge, von denen alle nicht verstanden haben, dass sie wirklich den Unterschied machen", sagt Geese auf dem Weg vom Supermarkt zurück zum EU-Parlament. Sie meint neue Rechercherechte, mit denen NGOs, Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler in Zukunft in den Daten der Plattformen forschen können. Je mehr Studien es darüber gibt, was in sozialen Netzwerken passiert, je mehr die Öffentlichkeit darüber weiß, hofft Geese, desto mehr würde die Stimmung langfristig gegen personalisierte Werbung kippen. Geeses Politik erinnert an ein Schachspiel. In Interviews mit Journalistinnen und Journalisten spricht sie in dieser Woche von einem "Schneeball, der ins Rollen gekommen ist, und zu einer Lawine wird."

Andreas Schwab ist einer der einflussreichsten Digitalpolitiker der EVP. Auch er will gegen die Macht der Digitalkonzerne vorgehen.

(Bild: Andreas Schwab)

Andere Abgeordnete sind weniger optimistisch. "Schneebälle rollen in der Regel nicht den Berg hinauf“, sagt Martin Schirdewan, ein Digitalpolitiker der Linken. "Ich hätte gerne was zu dem Geschäftsmodell der Plattformen gemacht, ich hatte keine Mehrheit dafür. Ich wollte ein Verbot von Werbetracking. Es war nicht möglich", sagt Christl Schaldemose, die als Berichterstatterin dafür zuständig ist, aus den IMCO-Anträgen einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu basteln. Auch Andreas Schwab sagt, er sei "kein Freund der Plattformen." "Grundsätzlich kann man ja beobachten: Umso abwegiger und umso bösartiger eine Nachricht ist, desto mehr Traffic zieht sie. Das ist natürlich ein Abwärtstrend, der uns alle irgendwann kaputtzumachen droht. Und da sind wir uns vollkommen einig, dass wir den stoppen müssen", sagt er in einem Zoom-Interview. "Diese Amplifikationseffekte sind eine Gefahr für demokratische Gemeinwesen. Und das Schlimme ist ja, diese Plattformen verdienen genau damit ihr Geld", so Schwab. "Die Vorfälle am 6. Januar im Kapitol wären nicht passiert, wenn wir frühzeitig derartige Gesetzgebung auf den Weg gebracht hätten, weil sich die Leute natürlich dort radikalisiert haben."

Wenn die federführenden Politiker und Politikerinnen der Grünen, Linken, der Sozialdemokraten und sogar der konservativen EVP so kritisch gegenüber den Netzwerken sind – was hält das Europäische Parlament davon ab, sich klar dagegen zu stellen?

Das Problem des DSA ist: Außer den Plattformen selbst versteht fast niemand, was im digitalen Dickicht der Profile, Algorithmen und Rankings eigentlich genau passiert. Den Gesetzesentwurf hat die Kommission von einem promovierten Physiker schreiben lassen, der vor seiner EU-Karriere für Philips an Halbleitern geforscht hat.

Dafür sind die politischen Positionen der großen Plattformen in Brüssel und Straßburg umso präsenter. Laut einer Untersuchung der NGO Corporate Europe Observatory geben Tech-Unternehmen jährlich 97 Millionen Euro für Lobbying in Brüssel aus – mehr als die Autoindustrie. Google und Facebook führen dabei die Liste an, mit Ausgaben von je etwas über fünf Millionen Euro. Neben den prominenten Plakatflächen in Brüssel bekommen sie dafür einen Chor von Stimmen aus Dachverbänden, Verbänden und Netzwerken, die als Graswurzelbewegung getarnt ihre Interessen vertreten.

"Sie haben kleine Unternehmen vorgeschickt mit der Botschaft: Wir können ohne personalisierte Werbung unsere Kundschaft nicht mehr erreichen. Das hat großen Eindruck auf liberale und konservative Abgeordnete gemacht", sagt Jan Penfrat, Mitarbeiter der Bürgerrechtsinitiative EDRi, in einem Zoom-Interview. Künstliche Graswurzelbewegungen werden in Brüssel Astroturfing genannt, abgeleitet von AstroTurf, einer Marke für Kunstrasen.

In der Praxis sieht so was dann so aus: Die Organisation SME Connect ist nach eigenen Angaben ein Netzwerk für kleine und mittlere Unternehmen. 22 Europaabgeordnete, darunter viele aus der EVP, sind auf der Website als "Board" aufgeführt. Erst auf den zweiten Blick fällt auf: Über einen Seitenarm namens "Friends of SMEs" wird das Netzwerk laut eigener Website auch von Google, Facebook, Amazon, Uber und Mastercard unterstützt. Bei einer Gesprächsrunde zum DSA ließ das Netzwerk die Abgeordneten dann mit drei Lobbyistinnen und Lobbyisten diskutieren, deren Verbände auch von Google und Facebook unterstützt werden.

Eine der drei Lobbyistinnen, Karina Stan vom Verband Developers Alliance, versichert in einem Zoom-Interview aus Brüssel, Developers Alliance würde die Interessen von tausenden Programmierenden und "kleinen App-Entwicklern" vertreten. Gerade diese kleinen Entwickler würden darunter leiden, wenn personalisierte Werbung eingeschränkt wird, so Stan. In dem Interview fällt ihr aber kein einziger kleiner App-Entwickler ein, der Mitglied bei "Developers Alliance" ist und tatsächlich darunter leiden würde.

Organisationen, die wirklich kleine Unternehmen in Brüssel vertreten, klingen anders: "Das Problem ist, dass der (Werbe-)Markt zu einseitig ist, dominiert von den Großen", sagt Annika Linck, eine Mitarbeiterin der European Digital SME Alliance – einer tatsächlichen Lobby-Gruppe für kleinere und mittlere Unternehmen. "Wir wollen ein wettbewerbsfreundliches Umfeld haben, freie Wahl in verschiedenen Bereichen." SME Connect habe sie auch schon E-Mails geschrieben und angerufen, sagt Linck. Aber irgendwie seien sie nie zu einer Veranstaltung eingeladen worden.

Am Mittwoch geht es im Parlament wieder um den 750-Milliarden-Aufbaufond der EU, der Geese schon seit zwei Jahren beschäftigt. "Das ist kein Konjunkturprogramm, das ist Männerförderung auf Kosten des Wachstums", protestiert sie in ihrer 60-Sekunden-Rede im Parlament. Aus ihrer eigenen Fraktion kommt vereinzelter Applaus, aus dem rechten Spektrum wieder Kopfschütteln.

Nach ihrer Rede sitzt Geese in der Members Bar, einem Bistro direkt neben dem Parlamentssaal. "Dass die Leute über mich die Augen rollen, ist eher die Norm als die Ausnahme," sagt sie und lacht. "Du hättest mal den Kommissar gerade sehen sollen. Die Leute sind super genervt, aber wenn du Leute nicht nervst, dann bewegst du nichts in der Politik. Das ist ’ne unbequeme Rolle, gerade als Frau." Geese sagt, sie habe keinen speziellen Gegenspieler im Parlament. Es kommt ihr eher so vor, als würde sie Politik gegen eine Wand machen. Eine Wand, die langsam Risse bekommt, die anfängt zu bröckeln.

In der dritten Januarwoche stimmt das ganze Parlament über die Position zum DSA ab. Jan Penfrat, der Mitarbeiter der Bürgerrechtsinitiative EDRi, hat das Verbot von personalisierter Werbung da schon aufgegeben. "Dazu wird es wahrscheinlich nicht kommen", sagt er. Während die Abgeordneten mittags mit dem Sonderzug aus Brüssel in Straßburg ankommen, wird eine neue Studie von Amnesty International veröffentlicht: 79 Prozent der kleinen Unternehmen wollen, dass personalisierte Werbung auf großen Plattformen stärker reguliert wird. Es ist das Gegenteil von dem, was die Lobbyisten als die Position der kleinen Unternehmen ausgegeben hatten.

Drei Tage später, am Donnerstagvormittag, werden die Ergebnisse der Abstimmung bekannt gegeben. In ihrem ersten Radiointerview kann Geese ihre Überraschung nur schwer verbergen. Nachmittags sitzt sie in ihrem kleinen Büro in Straßburg vor dem Rechner. Sie hat Augenringe, ihre Frisur wirkt etwas zerzaust, sie blinzelt und lacht viel. "Hier steht gerade alles Kopf, weil wir nicht damit gerechnet haben, dass das durchgeht", sagt sie.

Das Parlament hat überraschend für einen Änderungsantrag der "Tracking-Free Ads Coalition" gestimmt, einem Bündnis von Abgeordneten, in dem Geese auch Mitglied ist. Demnach soll personalisierte Werbung auch aufgrund von sensiblen Daten wie Religion oder sexueller Orientierung verboten werden. Zusammen mit anderen Artikeln im DSA, die personalisierte Werbung einschränken, kommt das einem Verbot überraschend nahe. "Der jetzige Erfolg wird bahnbrechend sein, auch für ein Komplettverbot der profilbasierten Werbung in Europa", erklärt Geese.

Gefeiert wird nicht viel. "Alexandra hat uns gestern Abend, als sie von der Fraktionssitzung zurückkam, ein Glas Kava mitgebracht. Es war also nicht besonders exzessiv", schreibt ihre Mitarbeiterin Jana Gooth via Signal Messenger. Geese zielt schon auf das nächste Thema, politische Werbung auf Social Media, erklärt sie im Zoom-Call. "Es geht weiter." Das Interview ist kurz, Geese muss weiter. Aber die Wand hat einen Riss mehr.

(lca)