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Geringe Strafe für Betrugskampagne zur Abschaffung der US-Netzneutralität

Daniel AJ Sokolov
Wegweiser

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lobbyisten haben Millionen fremder Namen missbraucht, um die US-Regulierung zu beeinflussen. Jetzt müssen sie dafür einen kleinen Preis zahlen.

US-Lobbyisten haben im Behördenverfahren zur Abschaffung der Netzneutralität Millionen Stellungnahmen eingereicht, wofür sie fremde Namen und Adressen missbraucht haben. Die Daten stammten zum Teil aus Hacks Dritter, auch vor Identitäten Toter schreckten die Täter nicht zurück. Umweltschutzverfahren haben die Firmen auf diese Weise ebenfalls zu beeinflussen gesucht. Jetzt verpflichten sich drei Firmen, in Summe 615.000 US-Dollar Strafe und Gewinnabschöpfung zu zahlen.

Diese Vereinbarung hat die Justizministerin des Staates New York, Letitia James, veröffentlicht. Im Dezember 2017 hat die US-Regulierungsbehörde FCC die Netzneutralität nicht nur abgeschafft, sondern sich sogar ihrer Kompetenz entledigt, überhaupt Netzneutralitätsregeln aufzustellen. Dies geschah damals mit 3:2 Stimmen: Die drei republikanischen Kommissare stimmten für die Aufhebung, die beiden Demokratinnen in der Kommission dagegen. Beide Seiten betonten dabei, für die Freiheit im Internet zu kämpfen.

Die Republikaner verwiesen auf 22 Millionen Stellungnahmen von Bürgern im Konsultationsverfahren, von denen ein Teil die Abschaffung der Netzneutralität forderte. Die Demokraten verwiesen darauf, dass die weitaus überwiegende Zahl der Stellungnahmen gefälscht war. Tatsächlich wurden Millionen fremder Namen zur Abschaffung der Netzneutralität missbraucht [1]. Die weit überwiegende Mehrheit der US-Gesamtbevölkerung unterstützt Netzneutralität, auch republikanische Wähler sind mehrheitlich dafür. Große Telecom-Konzerne lehnen sie vehement ab.

Eine Untersuchung der New Yorker Staatsanwaltschaft hat aufgedeckt, dass die meisten Stellungnahmen gefälscht waren. Beispielsweise hat ein 19-jähriger Student 7,7 Millionen Eingaben für die Netzneutralität unter erfundenen Namen fabriziert, aus einer unbekannten Quelle stammten weitere 1,6 Millionen.

Zudem finanzierten drei große Telecom-Konzerne einen Fonds, aus dem eine Kampagne gegen die Netzneutralität und gegen Breitbandregulierung im Allgemeinen finanziert wurde. Sie sollte den Eindruck breiter Ablehnung der Netzneutralität unter der Bevölkerung erwecken. Die New Yorker Staatsanwaltschaft hat Belege dafür gefunden, dass dieser Fonds mit 8,2 Millionen Dollar gespeist war und 8,5 Millionen erfundene Stellungnahmen gegenüber der FCC sowie über eine halbe Million gefälschte Briefe an Parlamentsabgeordnete bezahlt hat. Im Unterschied zu den gefälschten Stellungnahmen für die Netzneutralität mit erfundenen Absendern missbrauchten die Gegner Identitäten echter lebender und verstorbener Personen.

Offiziell sollte die Kampagne mit Reklame funktionieren: Internetnutzer wurden durch Versprechen wie kostenlose Potenzmittel, günstiges Filmstreaming oder Preisausschreiben dazu verleitet, ihre Daten anzugeben. Dann sollte ihnen auch ein Formular vorgesetzt werden, mit dem sie eine Eingabe gegen die Netzneutralität an die FCC unterzeichnen konnten. Ziel war nicht, die Meinung der FCC zu beeinflussen, sondern der republikanischen Mehrheit in der FCC einen Vorwand für die von ihr ohnehin geplante Abschaffung der Netzneutralität zu geben. Ein Lobbyverband der Konzerne namens Broadband for America (BFA) heuerte sechs Unternehmen an, die wiederum mehrere unabhängige Kampagnen vorgaukeln sollten.

Tatsächlich machten sich diese Firmen kaum Mühe mit den Eingabeformularen. Vielmehr schrieben sie selbst die Eingaben und setzten ohne Wissen der Betroffenen fremde Namen darunter, die sie bei früheren Kampagnen zu völlig anderen Zwecken geerntet hatten, oder die sie bei Datenhändlern zugekauft hatten. Eines der Unternehmen nutzte sogar eine geleakte Datenbank aus einem Hack, um weitere echte Namen und Adressen missbrauchen zu können.

Mithilfe spezieller Software wurden die Eingaben textlich variiert; ein Anbieter hat auf diese Weise eine Million unterschiedlicher Texte eingereicht. Beweise, dass der auftraggebende Lobbyverband BFA von allen Betrügereien wusste, hat die Staatsanwaltschaft nicht gefunden. BFA erhielt allerdings Warnhinweise eines Händlers von E-Mail-Adressen; außerdem kannte der Lobbyverband schon früh Medienberichte, in denen sich Opfer über den Missbrauch ihrer Namen beschwerten. Dennoch liefen die verschiedenen Kampagnen weiter.

Drei Firmen haben sich nun dazu verpflichtet, solchen Betrug zu unterlassen und bescheidene Geldbußen zu zahlen. LCX und deren Manager John Hilinski und Timothy Browning zahlen 400.000 Dollar an den Staat New York und weitere 100.000 Dollar an Kalifornien. LEAD ID und dessen Chef Robert Carroll muss 30.000 Dollar an New York überweisen. Von der Firma Ifficient gehen 63.750 Dollar an New York und 21.250 Dollar an Colorado.

Die Untersuchung hat aufgedeckt, dass mindestens drei weitere Firmen seit spätestens 2015 im Geschäft waren. Sie verkauften Auftraggebern Namen und Adressen von 4,6 Millionen Personen unter der Behauptung, diese Personen hätten zugestimmt, dass ihre Namen für bestimmte Kampagnen genutzt werden. Tatsächlich hatte aber fast keiner der Betroffenen eine solche Einwilligung erteilt.

Von 2015 bis 2018 wurden mit diesen Daten 114 Brief- und E-Mail-Kampagnen zur Beeinflussung von Politikern geführt sowie mindestens fünf Konsultationen in Regulierungsverfahren besudelt. Die Bandbreite der Themen reichte weit, von Umweltschutz über Tabakregulierung, Glücksspiel, Energie, Meeresmanagement, Datenschutz, Justizreform bis zu Gesundheitsversorgung. Der Bericht nennt zwei der drei Adresshändler beim Namen: Fluent und React2Media.

Ursprünglich stellte die FCC 2004 allgemeine Leitlinien zur Sicherung des Prinzips des offenen Internets auf. Diese sicherten Nutzern unter anderem Rechte auf Zugang zu legalen Inhalten, zur Nutzung entsprechender Anwendungen und Dienste sowie zum Anschluss eigener Geräte an ein Netzwerk zu. Zugleich soll damit der Wettbewerb zwischen Netz-, Dienste-, Programm- und Inhalteanbietern gefördert werden. 2005 wurden die Regeln modifiziert, waren aber noch nicht verpflichtend.

2007 wurde Comcast dabei erwischt, das BitTorrent-Protokoll auszubremsen und teilweise komplett zu blockieren. 2008 erließ die FCC daher einen Bescheid gegen Comcast: Strafe gab es keine, aber Comcast solle sein Netzwerkmanagement offenlegen und BitTorrent nicht länger stören. Comcast ging zu Gericht, das den FCC-Bescheid kassierte [2], weil die Behörde keine Kompetenz dazu habe.

Ende 2010 erließ die FCC dann erstmals eine allgemeingültige Verordnung für ein offenes Internet [3]. Doch auch diese wurde von einem Bundesgericht aufgehoben: Es erkannte einen Formfehler, erklärte der FCC aber, wie es die Netzneutralität korrekt verordnen könne.

2015 beschloss die Regulierungsbehörde schließlich die drei Gebote der Netzneutralität [4]. Im Zentrum standen drei fundamentale Verbote für im Einzelhandel (Retail) angebotene Breitband-Internetzugänge:

Illegales und Schädliches durfte also gesperrt oder gebremst werden. Und Bevorzugungen waren nicht gänzlich ausgeschlossen. So blieb beispielsweise das sogenannte Zero Rating erlaubt. Zusätzlich galt eine allgemeine Wohlverhaltensregel: "unvernünftige" (unreasonable) Eingriffe oder Benachteiligungen wurden untersagt, und zwar in die Auswahl, den Zugriff und die Nutzung legaler Inhalte, Anwendungen, Dienste oder Geräte durch Verbraucher. Auch andere Netzbetreiber (edge provider) sind geschützt: Die Breitband-ISPs durften legale Angebote von Inhalten, Anwendungen, Diensten und Geräten anderer Provider nicht in unvernünftiger Weise benachteiligen oder in diese eingreifen.

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Wieder klagten ISP gegen die Netzneutralität, doch diesmal war alles korrekt. 2016 wies ein Bundesberufungsgericht die Klage gegen die Netzneutralität ab [6].

Also setzten die Konzerne auf politische Entscheidungsträger. Nachdem Donald Trump Anfang 2017 US-Präsident wurde, änderte sich die politische Mehrheit in der FCC. Sie beschlossen Ende 2017 die Abschaffung der Netzneutralität [7] per 11. Juni 2018, entzog sich selbst die Zuständigkeit und verbot Staaten und Kommunen, eigene Netzneutralitätsregeln zu erlassen.

Im Mai 2018 stimmte der US-Senat mit 52 zu 47 Stimmen für die Beibehaltung der Netzneutralität [8]; dabei unterstützten auch drei republikanische Senatoren die Netzneutralität. Allerdings verhinderte der republikanische Vorsitzende des Unterhauses eine Abstimmung in dieser Kammer, womit der FCC-Beschluss zur Abschaffung der Netzneutralität bis heute Bestand hat.

Nach den Wahlen vom Herbst 2018 gab es im Unterhaus eine Demokratenmehrheit. Im April 2019 verabschiedeten 231 Demokraten und ein Republikaner gegen 190 Gegenstimmen einen Gesetzesentwurf namens "Save the Internet Act" für Netzneutralität. Diesmal gab es im Senat einen republikanischen Vorsitzenden, der die Abstimmung über den Save the Internet Act zu verhindern wusste.

Auf Bundesebene gibt es bis heute keine Netzneutralität in den USA. Allerdings haben einzelne Bundesstaaten Variationen von Netzneutralitätsbestimmungen erlassen. In manchen Staaten können sich nur netzneutrale ISP um staatliche Verträge oder Subventionen bewerben. Kalifornien verabschiedete 2018 ein Netzneutralitätsgesetz [9], dass sich sehr an den drei Geboten der Netzneutralität der FCC orientiert.

Auch dagegen schritten ISP, diesmal mit Unterstützung der Regierung Trump, zu Gericht: Sie verwiesen darauf, dass die FCC solche staatlichen Regeln untersagt hatte. Damit kamen sie aber nicht durch: Wenn die FCC nicht zuständig ist, kann sie anderen auch nichts verbieten, befand das angerufene Bundesgericht. Die Regierung Biden hat sich aus dem Verfahren zurückgezogen, die Provider ihre Klage gegen die Netzneutralität aufgegeben [10] – nach deutlichen Niederlagen beim Bundesberufungsgericht. Damit gilt in Kalifornien die Netzneutralität. Unterdessen versuchen die Netzbetreiber durch Lobbying auf Bundesebene, einen Weg zu finden, Bundesstaaten die Netzneutralität zu verbieten.

2021 befahl US-Präsident Joe Biden den Bundesbehörden, Wettbewerb stärker zu fördern und Kartelle stärker zu bekämpfen. Die FCC ruft er dabei auf, die Netzneutralität wieder einzuführen. Befehlen kann er das nicht, weil die FCC als unabhängige Behörde gilt.

(ds [13])


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[1] https://www.heise.de/news/Millionen-fremder-Namen-zur-Abschaffung-der-Netzneutralitaet-missbraucht-4196015.html
[2] https://www.heise.de/news/US-Berufungsgericht-kassiert-Netzneutralitaetsauflagen-fuer-Comcast-971726.html
[3] https://www.heise.de/news/FCC-Regelwerk-zur-Netzneutralitaet-abrufbar-1159131.html
[4] https://www.heise.de/news/FCC-gegen-Zwei-Klassen-Internet-Die-Drei-Gebote-der-Netzneutralitaet-2560672.html
[5] https://www.heise.de/Datenschutzerklaerung-der-Heise-Medien-GmbH-Co-KG-4860.html
[6] https://www.heise.de/news/Rechtskraeftig-US-Netzneutralitaet-war-legal-4213865.html
[7] https://www.heise.de/news/USA-Netzneutralitaet-wird-abgeschafft-3918679.html
[8] https://www.heise.de/news/US-Senat-stimmt-fuer-Netzneutralitaet-4050827.html
[9] https://www.heise.de/news/Kalifornien-beschliesst-Netzneutralitaet-4153342.html
[10] https://www.heise.de/news/Kaliforniens-Netzneutralitaet-bleibt-Provider-geben-Klage-auf-7077277.html
[11] https://www.heise.de/downloads/18/4/1/8/9/7/2/6/oag-fakecommentsreport.pdf
[12] https://www.heise.de/downloads/18/4/1/8/9/7/2/6/LCX__Lead_ID__and_Ifficient_AODs.pdf
[13] mailto:ds@heise.de