Klimawandel: Zum Forschungsstand der Kipppunkte

Klima- und Sozialwissenschaftler haben die neuesten Veröffentlichungen über die gefährlichen Klimaschwellen analysiert.​

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Stadt, Sonne, Klimawandel

(Bild: Michal Balada/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Wenn es um Kipppunkte geht, geht es für die Öffentlichkeit vor allem um klimatische, physikalische Elemente: Momente, ab denen sich etwas unumkehbar ändert – in der Klimaforschung und -entwicklung vor allem in die negative Richtung. Dass der Begriff noch weitergefasst werden kann und vereinzelt sogar ins Positive kippen könnte, zeigt die Arbeit von Klima- und Sozialwissenschaftlern, die in Dubai zur Halbzeit der UN-Weltklimakonferenz den Globalen Kipppunkte-Report vorstellten. Mehr als 200 Forscher aus 26 Ländern haben dazu die neuesten Veröffentlichungen über die gefährlichen Klimaschwellen analysiert.

Danach kristallisieren sich jetzt 25 Kippelemente heraus, neun mehr als in älteren Veröffentlichungen. Denn zum einen ist die Erforschung der Kippelemente weiter fortgeschritten, zum zweiten lassen sich viele der gefährdeten Regionen räumlich kleiner darstellen und drittens enthält der Bericht jetzt auch soziale Kipppunkte, negative wie positive.

Kipppunkte sind Momente, ab denen plötzlich non-lineare, unaufhaltbare und meist unumkehrbare Veränderungen beginnen, an denen das Klimasystem in einen qualitativ anderen Zustand übergeht.

Bei den positiven sozialen Kipppunkten gelten allerdings etwas andere Kriterien, wie Mitautorin Caroline Zimm vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) im österreichischen Laxenburg erläutert: "Die sind alles, was erstrebens- oder wünschenswert oder gesellschaftlich gewollt ist, um negative Erdsystemkipppunkte zu vermeiden. Diese Kippelemente müssen aktiv von Politik, Industrie oder Zivilgesellschaft gefördert werden."

Als Beispiel nennt Zimm die Mobilität. E-Autos erhofft man sich, dass es eines Tages kippt, weil sie eine Verbesserung herkömmlicher Technik sind. Selbstgänger sind Elektroautos beispielsweite schon in Norwegen und den Niederlanden. Natürlich kann man wählen: "Ich kann aber genauso gut schauen, ob ich mein System so umbaue, dass ich eigentlich gar keinen Individualverkehr brauche, sondern dass ich auf öffentlichen Verkehr, Radfahren oder Gehen umsteigen kann. Aber ich könnte auch im ersten Schritt fragen, ob ich überhaupt Mobilität brauche, weil ich vielleicht in einer Stadt der kurzen Wege lebe."

Sozialforschung überblickt im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Klimaforschung nur verhältnismäßig kurze Zeiträume. Wie eine Gesellschaft in 50 oder 100 Jahren aussieht, lässt sich nicht vorhersehen. Bis dahin könnte eine Gesellschaft positive soziale Kipppunkte auch wieder zurückstellen.

Dass aber negative soziale Kipppunkte sämtliche Klimaschutzanstrengungen unterminieren können, zeigt der Bericht auch auf: So können sich Radikalisierung, Polarisierung und mentale Gesundheitsprobleme in einer Gesellschaft zu gewaltsamen Konflikten, Massenmigration und finanzieller Instabilität aufzuschaukeln.

Bei den physikalischen Kipppunkten ist es klar, dass sie vor allem von der Erderwärmung abhängig sind. Dabei ist aber wichtig zu wissen, dass die Systeme nicht schlagartig bei einer exakten Grenztemperatur umschlagen. Die 1,5- und 2-Grad-Grenzen sind eher politisch gesetzte Obergrenzen.

"Schon heute, bei 1,2 Grad globaler Erwärmung, ist es wahrscheinlich, dass Korallenriffe in den Tropen kippen", fasst Mitverfasser Jonathan Donges vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung die Kernaussaugen zusammen. "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass vier andere Systeme ihre Kipppunkte überschreiten oder bereits überschritten haben, nämlich das grönländische und das westantarktische Eisschild, die nordatlantische Subpolarwirbelzirkulation und Teile der Permafrostsysteme."

Der Subpolarwirbel dreht sich südlich von Grönland, angetrieben von nach Norden gerichteten Ausläufern des Golfstroms und dem Labradorstrom, der vor der kanadischen Küste gen Süden strömt. Permafrostsysteme verhalten sich regional recht unterschiedlich, sodass Forscher derzeit nicht davon ausgehen, dass sie alle kippen – was ebenfalls eine neue Erkenntnis ist.

Anders beim nördlichen Nadelwald, den Mangrovenwälder und den Salzwasserwiesen am Übergang zwischen Meer und Land. Die dürften jenseits von 1,5 Grad langsam absterben. Dann wären die Korallenriffe schon vollständig verschwunden.

"Oberhalb von zwei Grad globaler Erwärmung werden dann weitere Systeme möglicherweise destabilisiert, wie der Amazonas-Regenwald und Teile des ostantarktischen Eisschildes", so Donges weiter. Er weist aber auch darauf hin, dass Kippelemente nicht unabhängig voneinander sind, sodass es auch zu Kettenreaktionen und Dominoeffekten kommen könne.

Wenn beispielsweise die nordatlantische Umwälzströmung (AMOC) weiter schwächelt, wird es zu weitreichenden Veränderungen von Wetter- und Klimamustern kommen, deren Ausmaß sich noch nicht abschätzen lässt. Sicher ist, dass sie zu weniger Ernten führen und damit die Nahrungsmittelsicherheit gefährden.

Bereits jetzt befürchten Polarforscher, dass das westantarktische Eisschild dabei ist, einen Kipppunkt zu überschreiten. Ist das wirklich passiert, dann dürfte der Meeresspiegel noch innerhalb dieses Jahrhunderts um zwei Meter ansteigen – eine Gefahr für die rund 500 Millionen Menschen an den Küsten.

Polarforscher Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, der an dem Bericht nicht mitgeschrieben hat, findet, dass die Autoren vereinzelt von zu engen Unsicherheitsbereichen ausgehen. Für das Kippen des westantarktischen Eisschildes gibt der Bericht einen Bereich von ein bis drei Grad an. "Sie schreiben aber nicht, welche Temperatur damit gemeint ist", so Lohmann. "Beim westantarktischer Eisschild knabbert der warme Ozean unten am Eisschelf herum, und wenn der zu viel herumknabbert, dann wird das Ganze instabil und man hat dann einen Meeresspiegelanstieg von drei bis fünf Metern. Aber wie kommt die Wärme eigentlich dahin, unter das Eis? Das hängt dann von den Ozeanströmungen ab. Die hängen wieder vom Wind ab. Und an welcher Stelle knabbert es eigentlich? Das ist alles unsicher."

Dennoch lobt er den Bericht. Vor allem ist er beeindruckt von der umfangreichen Fleißarbeit und dem Versuch, mithilfe der Vielzahl der natur- und sozialwissenschaftlichen Studien ein kohärentes Bild aus allen Forschungen zu Kippelementen des Klimasystems zu zeichnen.

(jle)