Missing Link: Nie mehr ins Ladengeschäft! Was für den Versandhandel spricht

Versandhandel beruht auf Vertrauen. Er folgt nämlich dem Grundsatz: "Kulanz lohnt sich". Das sollte der Einzelhandel unbedingt beherzigen, will er überleben.

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(Bild: Chiociolla/Shutterstock.com)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Emotional in Produkte investierte Leser stören sich häufig an der Bezeichnung "Fehlkonstruktion" in Produkttests. Es hat sich das Mem durchgesetzt, dass der technische Fortschritt so etwas sehr selten gemacht habe. Das Gegenteil ist wahr. Fortschritte in der Produktion werden überschattet von überbordender Komplexität, die zu mehr versehentlichen Fehlkonstruktionen führt als jemals in der Geschichte. Tesla baute eine Mittelkonsole, die sich in drei Jahren den Flash-Speicher ohne jede Not oder auch nur erkennbaren Sinn kaputtschrieb. Volkswagen bietet eine Spurführung an, die sofort in den Graben fährt, wenn man sie machen ließe, und sich nur durch wildes hin und her lenken davon überzeugen lässt, dass man wirklich in der Mitte der Fahrspur fährt, die sie so schlecht erkennt, dass sie am liebsten für Fahrzeuge auf anderen Spuren bremst. Amazons Viellesergerät Kindle Oasis will trotz E-Ink-Display und Modellupdate öfter geladen werden als ein Android-TFT-Tablet. Die Welt ist voller Fehlkonstruktionen. Menschen machen viele Fehler. Deshalb ist es so wichtig, dass Endkunden verlässliche Handelspartner finden.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Damit Kunden Waren ausprobieren können wie im Einzelhandel, erhalten sie in Europa per Gesetz die Zusicherung, alles ohne Angabe von Gründen wieder zurücksenden zu können. Dieses Gesetz findet seine Grenzen, die jedoch gar nicht so interessant sind, denn der Versandhandel geht in seiner Kulanz üblicherweise weit über die gesetzlichen Anforderungen hinaus. Ja, Amazon ist ein antidemokratischer Ausbeuter, das ist die gesellschaftliche Sicht, das ist die Sicht des Angestellten dort. Doch aus Sicht des Kunden verhält sich Amazon als äußerst verlässlicher Geschäftspartner. Das macht die Firma so erfolgreich.

Amazon hat durch Durchsicht der Daten schon vor über 20 Jahren verstanden: Es kostet viel weniger, kulant zu sein, als nach einem personalkostenintensiven Streit Stammkunden zu verlieren. Wenn ich bei Amazon einkaufe, dann nicht, weil es dort am billigsten wäre. Im Gegenteil finde ich fast alle Waren anderswo günstiger. Nein, ich kaufe dort ein, weil ein Fehler – egal, wer ihn verursacht hat – nicht allein mein Problem bleibt. Meistens muss ich ihn gar nicht als großes Problem erleben, denn der Amazon-Bot schickt mir einfach Ersatz oder mein Geld zurück. Wenn wir uns umsehen in der Versandlandschaft, dann sehen wir: Jeder Versandhändler, der längerfristig erfolgreich operiert, hat diese Lektion verstanden, sei es nun durch eigene Lernerfahrungen oder aus jenen Amazons. Otto gibt es noch. Quelle nicht. Trotz alledem glauben viele stationäre Einzelhändler immer noch, dass sie nach anderen Regeln am Markt agieren, ja: einer höheren moralischen Wertigkeit.

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Zum Weihnachtsgeschäft 2020 plante die Unionsfraktion im Bundestag, den Versandhandel mit einer zusätzlichen Abgabe zu belasten, mit der die geschlossenen stationären Geschäfte subventioniert werden sollten. Es wurde argumentiert mit den großen BösenTM wie Amazon, die sich um ihre Steuern drücken. Dass fast jeder stationäre Einzelhändler heutzutage auch im Versand handelt, war der Union offenbar unbekannt. Dass in den Innenstädten die großen Filialen anderer großer Böser dominieren statt kleiner, lokaler Läden, ebenfalls. Der Ärger deutscher Händler traf sie daher unerwartet. Sie hatten es doch gut gemeint. Ist der Innenstadthandel nicht rettenswert? Wir lesen es doch täglich auf Facebook!

Aber so eine Abgabe träfe alle kleinen Versandhändler schärfer als die großen Bösen, die ganze Festanstellungen auf Herummogel-Suche ansetzen können. Und obwohl Ladengeschäfte natürlich darunter leiden, wenn man ihnen zusperrt: Die Krise des stationären Einzelhandels begann nicht 2020. Die Probleme der Innenstadt-Geschäfte sind seit vielen Jahren ein Dauerthema, vor allem um die Feiertage herum. Es reicht nicht, sich als die moralisch bessere Alternative hinzustellen. Diese gern weitergereichte Geschichte ist nicht einmal wahr. Da Verkehr so einen großen Anteil des CO2-Footprints des Einzelhandels emittiert, kann Versandhandel günstiger sein, sobald man das Gebiet "fußläufig erreichbares Geschäft um die Ecke" verlässt. Und kleine Spezialisten gibt es im Versand sogar eher mehr als mit teurem Ladengeschäft downtown.

Jedem Kunden ist bewusst, dass es Vor- und Nachteile von Versand gibt, genauso wie vom Ladengeschäft. Doch die aufgestellte Regel vom vertrauenswürdigen Geschäftspartner gilt für beide. Mir fiel diese Regel nicht heute Morgen beim Kaffee auf oder gar ein. Sie ist uralt. Sie folgt aus dem Prinzip des Guten Kaufmanns. Das ist ein Nachhaltigkeitsprinzip des Handels: Eine Geschäftstransaktion soll so beschaffen sein, dass alle direkt Beteiligten und die indirekt beteiligte Gesellschaft ihren Vorteil darin finden, damit von allen Wiederholung angestrebt wird. Aus diesem Grundprinzip folgen alle weiteren Nachhaltigkeitsprinzipien des Handels. Es hält sich jedoch in manchen Köpfen immer noch das Mem, dass der Kunde den Handel sofort massenhaft übervorteilt, wenn man ihm den kleinen Finger reicht. Das Mem stammt eher aus einzelnen, unangenehmen Anekdoten statt aus Amazons Statistik, denn dort kann man es nicht finden. Würde die sprichwörtliche Kulanz von Thomann.de massenhaft überstrapaziert, wäre entweder die Kulanz längst weg oder der Händler.

(Bild: Joyseulay/Shutterstock.com)

Nun zu meiner eigenen unangenehmen Anekdote vor dem Hintergrund dieser statistischen Realität. Kurz vor Schließung des stationären Handels kaufte ich dort ein Paar Schuhe, denn ich empfinde es als Vorteil, ohne Verpackung mit passenden Schuhen herausgehen zu können, sofern solche im Regal standen. Den Aufpreis dafür zahle ich gern. Kontrastieren Sie die Verpackungsberge von mehreren Paar Schuhen aus dem Versandhandel zum Anprobieren. Die Schuhe zeigten sich beim ersten Gang als erschreckend rutschig bei Nässe. Ich hatte ein Paar wasserdichter Leichtstiefel erworben, die auf nassem Asphalt rutschen. Arglos wollte ich sie im Geschäft zurückgeben aufgrund dieses Mangels. Mich traf völlig unvorbereitet, dass der Händler sich eisern weigerte. Die Argumentation mit "Sachmangel" wollte er nicht gelten lassen, weil andere Kunden zufrieden seien. Ich malte mir kurz einen Rechtsstreit mit Gutachter aus, den ich vielleicht gewinnen könnte, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall nichts, was sich für 200 Euro Streitwert lohnt. Ich verließ das Ladengeschäft (per Auto übrigens, um an den CO2-Footprint zu erinnern).

Doch war es überhaupt ein Sachmangel? Könnte es nicht auch eine Fehlkonstruktion sein, die mir in meinem professionellen Alltag schließlich ständig begegnet? Tatsächlich bestätigte der Schuh-Hersteller mir, dass diese Sohle auf nassem Asphalt rutschiger sei als a) alle billigeren Sohlen (etwa von Turnschuhen), aber auch b) als alle teureren Sohlen, etwa von Bergstiefeln. Warum man eine wasserrutschige Sohle an wasserdichte Stiefel baut, beantwortete der Hersteller nicht, ebensowenig die Frage, wie ein Kunde solche Sohlen erkennen könnte. Vielleicht folgt die Sohlenkonstruktion besonderen ökonomischen Zwängen, die es weder bei billigeren noch bei teureren Sohlen gibt. Richtig schlau scheint mir die Zusammensetzung "wasserdicht-nässerutschig" nicht.

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Weitere Indizien zur Fehlkonstruktion: Tags darauf riss die Schnüröse heraus (gut: das wenigstens ein eindeutiger Reklamationsfall) und noch einen Tag später erreichte mich ein Rundschreiben der Arbeitsschuhfirma Elten, die mein Schuhmodell aus dem Vertrieb nahm, weil zu oft die Sohlen abfallen. Fehlkonstruktionen, die bei gelegentlichen Wanderurlauben über die Garantiejahre halten können, fallen im professionellen Betrieb früher auf und raus. Und dennoch: Wenn der Händler nicht will, bleibt nur der teure, aufwendige Rechtsweg mit Gutachter, der dennoch auf einen ungewissen Ausgang hin spielt: Wenn die Sohle absichtlich so konstruiert ist, weisen Sie bitte einmal den Sachmangel nach, Herr Kläger! Wie rutschig ist zu rutschig? Das lateinische "Qualitas", von dem sich die deutsche "Qualität" ableitet, meint ja nur die (typische) "Beschaffenheit". Die kann ja durchaus zweifelhaft sein.

(Bild: Nice to meet you / Shutterstock.com)

Ich hege keine bösen Gefühle gegen den Schuh-Hersteller. Ich würde dort wieder kaufen. Jeder baut mal eine Fehlkonstruktion. Der Vertragspartner für Schadensfälle ist sowieso der Händler. Gegen den hege ich jedoch ebenfalls keine bösen Gefühle. Deshalb stehen hier keine Namen. Es ist eher Enttäuschung. Wenn ich auf dem relevanten Risiko, eine Fehlkonstruktion zu kaufen, immer selber sitzen bleibe, kann ich dort keine teuren Waren mehr kaufen. Ich habe mein Schuh-Budget verspielt am Roulette-Tisch des stationären Einzelhandels und kann mir aussuchen, ob ich mit dem Resultat ausrutschen will oder mit Trainingsschuhen durch den Winter latsche. Unbefriedigend.

Die im Versandhandel bekannte Lehre "Kulanz lohnt sich" scheint aus irgendeinem Grund nur schwer in den stationären Handel Einzug zu halten, und dort eher in kleinen, beweglichen Läden. Diese Lektion gehört jedoch nicht allein in den Versand, sie gehört in den gesamten Handel. Ich lasse mein Geld bei immer denselben vertrauenswürdigen Vertragspartnern, über Jahrzehnte. Ich muss dabei feststellen, dass Vertrauen wider jede Erwartung per Post besser funktioniert als im Laden. Hier schlittere ich auf das dünne Eis der "gefühlten Wahrheit", daher zur Prüfung die Sachlage: Retouren im stationären Einzelhandel durchschnittlich: 1 Prozent, im Versand 12 Prozent, Bekleidung überdurchschnittlich vertreten. Man könnte im Laden also doppelt so kulant sein wie bisher und hätte dabei immer noch nur ein Sechstel der Retouren-Kosten des Versands. Das passiert jedoch nicht. Warum?

Wahrscheinlich zwingt der Versand uns Vertrauen auf. Ich vertraue darauf, dass der Händler vorab bezahlte Ware tatsächlich schickt. Der Händler vertraut darauf, dass ich mehr Geld einbringe, als Versandkulanz kostet. Ohne dieses Vorschussvertrauen ginge im Versand nichts. Im Geschäft muss ich weniger vertrauen. Ich zahle direkt gegen Warenübergabe. Ich kann sehen, was ich kaufe. These: Beide Parteien halten die Transaktion an der Kasse für so abgeschlossen, dass ein Reklamationsfall auf erheblichen emotionalen Widerstand stößt. Letztendlich ist es aber egal: In der steten Konkurrenz zu allgegenwärtigen, kulanten Versandhändlern muss der stationäre Einzelhandel auf Dauer ein vergleichbares Niveau liefern, wenn er seine Krise lösen will. Es gibt sonst schlicht zu wenige Vorteile des Ladengeschäfts, weder für Kunden noch für die Wirtschaft oder die Umwelt. Meistens liegt der Benchmark doch gleich im Haus: Man stelle sich einfach vor, da stünde nicht der Kunde, sondern der Lieferdienst mit einer Warenrücksendung der Versandabteilung.

(tiw)