Missing Link: Wie die Kybernetik zur Waffe im Systemkonflikt wurde (Teil 1)

Wie der kapitalistischen Marktwirtschaft mit Hilfe der Kybernetik ein Sieg über die sozialistische Planwirtschaft gelang – ein Pyrrhussieg.

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(Bild: vs148/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

Kann der Kapitalismus weiterleben? Diese Frage stellte sich im Jahr 1942 der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter. Den meisten dürfte er als Theoretiker von Innovationsprozessen im Kapitalismus und Erfinder des Slogans von der "kreativen Zerstörung" geläufig sein, der seit Jahren angesichts disruptiver Geschäftspraktiken der Digitalkonzerne in aller Munde ist. Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs jedoch hatte die Welt noch andere Sorgen: Der Kapitalismus produzierte Elend, Kriege und Krisen am Fließband und war gegenüber dem Sozialismus derart in die ideologische Defensive geraten, das sich selbst Harvard-Ökonomen wie Schumpeter fragten, ob das noch lange gut gehen könne.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

War doch die Sowjetunion nicht nur gerade dabei, Nazideutschland fast im Alleingang zu besiegen, auch deren Planwirtschaft erschien damals Vielen vernünftiger und krisensicher zu sein. Der Sozialismus war auf dem Vormarsch und seine Chancen schienen gut zu stehen, den Kapitalismus ablösen zu können: Planung statt Chaos, Rationalität statt Markt. Der in die USA ausgewanderte Schumpeter beantwortete seine Frage übrigens gleich selbst: "Nein, meines Erachtens nicht."

Um also ideologisch wieder in die Offensive zu kommen und der Überzeugungskraft sozialistischer Planungs-Ökonomie zu begegnen, musste der Westen nachziehen. Da kam eine junge Disziplin gerade recht: die Kybernetik. Beschäftigte sich die neue Metawissenschaft doch mit der Steuerung und Kontrolle einer Vielzahl von Systemen in der Natur, der Technik, aber auch der Gesellschaft, und beschreibt deren Fähigkeiten, sich selbst zu regulieren. Deren Prinzipien von Selbststeuerung und Feedback fanden sich bei Lebewesen, Maschinen und Gesellschaft gleichermaßen, auch in der Marktwirtschaft sollte es gelingen, blinde Marktprozesse und Krisen durch Rückkopplung zu verhindern, so die Idee.

Der Vordenker der Marktwirtschaft Friedrich von Hayek erklärte fortan kybernetische Selbststeuerung zum neuen Ideal. Hayek schrieb seinerzeit: "Obwohl das Verhalten der Individuen, das die soziale Ordnung schafft, zum Teil durch Regeln geleitet ist, deren Befolgung bewusst erzwungen wird, ist die daraus entstehende Ordnung doch eine spontane Ordnung und eher mit einem Organismus als mit einer Organisation zu vergleichen." Die neue Metawissenschaft von Steuerung und Kontrolle, die Kybernetik, lieferte so die Blaupause bzw. ideologische Rechtfertigung für einen vernünftigen Kapitalismus.

Die Kybernetiker selbst akzeptierten diese Rolle als Vorkämpfer westlicher Ideale. "Der Kontext, in dem man die gegenwärtige Entwicklungsphase der Kybernetik zu sehen hat, ist klar. Die hochindustrialisierten Gesellschaftssysteme des Westens müssen dem starken ökonomischen und moralischen Druck des Ostens standhalten." Diese Einschätzung äußerte Stafford Beer, neben Norbert Wiener und Heinz von Foerster eine der prägenden Figuren der Kybernetik im Jahr 1959, zwei Jahre nach dem erfolgreichen Start des ersten Satelliten in eine Erdumlaufbahn durch die Sowjetunion. Dieser "Sputnik-Schock" hatte der Befürchtung, der Sozialismus sei auch technologisch auf der Gewinnerstraße, zusätzlich Auftrieb gegeben. Die Kybernetik und die Computerentwicklung im Westen sollten maßgeblich dazu beitragen, dass dies nicht gelang. Die Kybernetik, im Kontext militärischer Entwicklungen entstanden, wurde selbst zur ideologischen Waffe im Kalten Krieg.

Zunächst hielt die neue Wunder-Wissenschaft auch jenseits des Eisernen Vorhangs Einzug, wenn auch mit Verspätung; eine sozialistische Kybernetik wurde entwickelt. Deren wichtigster Evangelist in der DDR, Georg Klaus, schrieb 1962: "Die neue Wissenschaft der Kybernetik mit all ihren sozialen, einzelwissenschaftlichen und weltanschaulichen Konsequenzen ist neben der wissenschaftlichen und technischen Bewältigung der Atomenergie und der beginnenden Weltraumschifffahrt das wichtigste wissenschaftliche Ereignis der Gegenwart." Er betrachtet sie weiterhin "als eine der eindrucksvollsten einzelwissenschaftlichen Bestätigungen des dialektischen Materialismus, die es überhaupt je gegeben hat", konstatierte jedoch gleichzeitig einen erheblichen Rückstand "gegenüber dem internationalen Niveau".

Dieser Rückstand konnte in der Folgezeit nicht verringert werden, im Gegenteil: Es gelang keinem Ostblock-Land eine nennenswerte und international konkurrenzfähige IT-Industrie aufzubauen – die Betriebe fragten zwar immer stärker nach kybernetischen Maschinen, aber es gab keine. Gründe hierfür waren wohl neben der Tatsache, dass Computer als militärisch relevant galten und damit einer strikten Geheimhaltung unterworfen waren, auch eine generelle Unterschätzung der Möglichkeiten der Technologie. In den 70er Jahren wurden Computer importiert, eine mit dem Westen vergleichbare PC-Revolution fand nur in Ansätzen und verspätet statt. Im Zuge der "mikroelektronischen Revolution" und dem Aufstieg des Post-industriellen Dienstleistungskapitalismus gerieten die Planwirtschaften dieser Erde ökonomisch, politisch und militärisch vollends ins Hintertreffen.

Die Idee, mithilfe von elektronischer Datenverarbeitung Ökonomie und Gesellschaft zu planen, ist so alt wie die Erfindung selbst. Konrad Zuse, der Erbauer des ersten Computers, taufte nicht nur seine Anfang der 1940er-Jahre entwickelte Programmiersprache auf den geradezu poetischen Namen "Plankalkül". Auch die Idee eines "Computer-Sozialismus" geht Zuses Freund und Biograf Arno Peters zufolge auf den Kreuzberger Tüftler zurück. Auf einem Vortrag im Deutschen Museum in München, vier Jahre nach dem Fall der Mauer, erläuterte er: "Mir schwebt so etwas vor wie eine Art Computer-Sozialismus […], vieles durchzusetzen, was die Idealisten in den sozialistischen Ländern im Osten dachten, was ihnen dann aber nicht ganz gelungen ist." Mit erheblicher Altersmilde findet Zuse hier geradezu euphemistische Worte für den im Weltmaßstab gescheiterten Versuch, Lenins Idee einer verallgemeinerten Reichspost als Gesellschaftsmodell zu etablieren.

Der schon erwähnte Stafford Beer war auch nicht zufrieden mit der Anwendung der Kybernetik im Westen, 1968 bemängelte er, die Informationstechnologie werde immer noch eingesetzt, um bestehende Prozesse nur zu beschleunigen, anstatt die Organisationen selbst radikal umzubauen nach den Erfordernissen der Kybernetik. Die derzeit propagierte agile Organisation kann demgegenüber als später Versuch gewertet werden, kybernetische Prinzipien in die Tat umzusetzen.

Grund genug für Beer, die Seiten zu wechseln und sein kybernetisches Glück im sozialistischen Chile zu versuchen. Die junge sozialistische Regierung unter Salvador Allende wollte mit dem sozialistischen Computernetzwerk Cybersyn die Ökonomie planen und regulieren. Es bestand aus einer Modellsimulation der chilenischen Volkswirtschaft, einer Software zur Überprüfung der Produktionsleistung der wichtigsten Fabriken, einer Kommandozentrale (boardroom) und einem nationalen Netzwerk von Fernschreibmaschinen, die mit einem Großrechner verbunden waren. Durch die tagesaktuelle Verarbeitung von Kennziffern aus ca. 600 Betrieben gelang tatsächlich so etwas wie eine kybernetische Regelung, die schnelle Reaktion auf Engpässe und Probleme erlaubte, von gesamtgesellschaftlicher Planung konnte allerdings keine Rede sein.

Das Projekt existierte nur von 1971 bis 1973 während der Präsidentschaft von Salvador Allende, die "Kommunistenmaschine" kann gut und gerne als Pariser Commune der sozialistischen Kybernetik gelten – romantisch verklärt, vielleicht auch, weil früh gescheitert, von den Putschisten um Pinochet gleich zu Klump geschlagen. Zum Generaldirektor des Cybersyn-Projekts hatten die Chilenen übrigens keinen Geringeren als Stafford Beer gewinnen können.

Mit dem Untergang der Sowjetunion vor nunmehr 30 Jahren konnte die Österreichische Schule schließlich einen späten, aber deutlichen Sieg im Wettstreit der ökonomischen Systeme erringen: "Der Markt", so die verbreitete Rede, hatte über "den Plan" gesiegt. Der planwirtschaftende Sozialismus hatte es doch tatsächlich geschafft, noch katastrophaler als der Markt-Kapitalismus zu wirtschaften – für jede Verschwendung, Umweltkatastrophe oder Irrationalität im Westen fanden sich noch monströsere Entsprechungen im Osten.

Um die Kybernetik, die als Manhattan-Projekt der bürgerlichen Ökonomie der Nachkriegszeit erheblichen Anteil gehabt hatte, war es merkwürdig still geworden – vielleicht weil sie doch zu allgemein formuliert war und sich in ihrem Sieg als common sense verallgemeinert bzw. in vielen Spezialdisziplinen aufgelöst hatte.

Heute, 70 Jahre nach ihren Anfängen, erlebt die Kybernetik eine Renaissance, und zwar an der Hand der Digitalkonzerne. Mit ihren Plattformen haben sie weltumspannende digitale Ökosysteme entwickelt, deren Spielregeln sie selbst entwerfen und steuern. Die im Namen enthaltene Analogie zu komplexen, nach dynamischem Gleichgewicht strebenden natürlichen Systemen, ist dabei ein deutlicher Hinweis auf deren kybernetischen Charakter.

Manche sagen, der heutige, auf Big Data, Algorithmen und Vorhersagelogiken beruhende digitale Kapitalismus, sei im Grunde eine Art kapitalistischer Planwirtschaft. Im zweiten Teil geht es auch um die Frage, ob an der Hand der Digitalkonzerne der Plan nicht doch noch dabei ist, einen späten Sieg zu erringen.

(bme)