Neue 3D-Kameras fangen Bilder von zerbrechlichen Tiefsee-Tieren ein​

Viele unbekannte Meeresorganismen sind zu fragil, um gefangen und im Labor erstmals beschrieben zu werden. Eine neue Technik scannt sie detailliert vor Ort.​

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Die an diesem ferngesteuerten Fahrzeug montierten Instrumente können detaillierte Bilder von empfindlichen Lebewesen im Mittelwasser des Ozeans erstellen.

(Bild: Joost Daniels / MBARI)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Elizabeth Anne Brown
Inhaltsverzeichnis

Tief im Ozean, unterhalb der Reichweite windgetriebener Strömungen, aber noch weit über dem Meeresboden, liegt eine Zwischenwelt. Es ist ein fast schon gespenstig ruhiges Mittelwasser, das von fremdartig aussehenden, gallertigen Lebensformen beherrscht wird. Hier schwimmen Rippenquallen mit glitzernden Kamm-Beinen umher, Kolonien von Staatsquallen-Klone erstrecken sich über eine Länge von hundert Fuß, und riesige Copelata scheiden kunstvolle, durchsichtige Schleimgehäuse aus, die sie wie Larven aussehen lassen.

Diese seltsamen Bewohner des Mittelwassers, das auch "Twilight Zone" genannt wird, sind notorisch schwer zu erforschen. Ihre Körper sind so substanzlos, dass sie zu fangen mit dem Versuch verglichen wurde, Nebel in einem Netz einzufangen und in einem Einmachglas einzulegen. Selbst wenn es gelingt, intakte Exemplare zu fangen, neigen sie dazu, sich in den Konservierungsmitteln aufzulösen.

Zwei neue Bildgebungssysteme versprechen jedoch, diese schwer greifbaren Lebewesen – zumindest im übertragenen Sinn – endlich besser zugänglich zu machen. Ein Team am kalifornischen Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) entwickelte DeepPIV und EyeRIS, die 3D-Darstellungen der gallertartigen Tiefseekreaturen erstellen können. Zusammen können sie jedes Merkmal eines Tieres im Millimeter-Maßstab erfassen, bis hin zur Struktur der inneren Organe und sogar die Nahrung, die sich durch den Verdauungstrakt bewegt.

Das MBARI-Team ist davon überzeugt, dass die Scans den Forschern helfen werden, viele der empfindlichen Arten erstmals zu beschreiben und vielleicht sogar die Zeit zwischen der ersten Entdeckung eines Lebewesens und seiner offiziellen Einführung in die Wissenschaft zu verkürzen. Das dauert einer Studie aus 2012 zufolge durchschnittlich 21 Jahre.

Letztes Jahr schickte das MBARI auf einer Expedition mit dem Schmidt Ocean Institute vor der Küste San Diegos im August die Kameras – zusammen mit einem speziellen DNA-Proben-Entnahmegerät – Hunderte von Metern tief zur Erkundung in das Mittelwasser. Die Forscher konnten mindestens zwei bis dato unbenannte Lebewesen scannen: eine neue Rippenqualle und eine Staatsqualle.

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Die erfolgreichen Scans stärken die Argumente für sogenannte virtuelle Holotypen. Das sind digitale Exemplare, die als Grundlage für eine Artbestimmung dienen, wenn das Fangen eines physischen Exemplars nicht möglich ist. Historisch gesehen dienten meist diese physischen Exemplare als Holotyp, die vorsichtig gefangen, konserviert und katalogisiert wurden: etwa ein Seeteufel, der in einem Glas mit Formaldehyd schwamm, ein Farn, der in ein viktorianisches Buch gepresst wurde, oder ein Käfer, der an die Wand eines Naturkundemuseums gepinnt wurde. Künftige Forscher können daraus lernen und sie mit anderen Exemplaren vergleichen.

Befürworter sagen, dass virtuelle Holotypen wie 3D-Modelle unsere beste Chance sind, die Vielfalt des Meereslebens zu dokumentieren, von dem einige Arten für immer verloren zu gehen drohen. Ohne eine Artbeschreibung können Wissenschaftler die Populationen nicht überwachen, potenzielle Bedrohungen für sie übersehen und sich nicht für Schutzmaßnahmen einsetzen.

"Der Ozean verändert sich rasant: steigende Temperaturen, abnehmender Sauerstoffgehalt und Versauerung", sagt Allen Collins, ein Experte für Quallen und Medusen, der sowohl bei der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) als auch beim Smithsonian National Museum of Natural History tätig ist. "Es gibt noch Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Arten, die identifiziert werden müssen, und wir können es uns nicht leisten zu warten."

Meeresforscher, die gallertartige Mittelwasser-Bewohner erforschen, kennen alle Horrorgeschichten, in denen sie mit ansehen mussten, wie sich potenziell neue Arten vor ihren Augen auflösten. Collins erinnert sich an den Versuch, Rippenquallen im Nasslabor eines NOAA-Forschungsschiffs vor der Küste Floridas zu fotografieren: "Innerhalb weniger Minuten zerfielen sie entweder aufgrund der Temperatur, des Lichts oder des Drucks einfach", sagt er. "Ihre Teile lösten sich einfach ab. Es war eine schreckliche Erfahrung."

MBARI-Bioingenieurin Kakani Katija war die treibende Kraft hinter der Entwicklung DeepPIV und EyeRIS, obwohl sie nicht vorhergesehen hat, dass sie damit die Probleme der Mittelwassersammler lösen würde. "DeepPIV wurde entwickelt, um die Strömungsphysik zu untersuchen", erklärt sie. Anfang der 2010er Jahre untersuchten Katija und ihr Team, wie Meeresschwämme filtern und suchten nach einer Möglichkeit, die Bewegung des Wassers zu verfolgen, indem sie die dreidimensionalen Positionen von winzigen, im Wasser schwebenden Partikeln aufzeichneten.

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Erst später erkannten die Forscher, wie das System auch zum nicht-invasiven Scannen von gallertigen Tieren verwendet werden könnte. DeepPIV beleuchtet mit einem leistungsstarken Laser, der auf einem ferngesteuerten Fahrzeug montiert ist, jeweils einen Querschnitt des Körpers. "Wir erhalten ein Videobild, und jedes Videobild wird zu einem der Bilder unseres Stapels", sagt Joost Daniels, ein Ingenieur in Katijas Labor, der an der Verfeinerung von DeepPIV arbeitet. "Wenn man erst einmal einen Stapel von Bildern hat, ist es nicht viel anders als bei der Analyse von CT- oder MRT-Scans."

Am Ende erzeugt DeepPIV ein unbewegtes 3D-Modell, doch die Meeresbiologen wollten die Lebewesen im Meer auch in Bewegung beobachten. Daher entwickelten Katija und der MBARI-Ingenieur Paul Roberts mit anderen Mitgliedern des Teams ein Lichtfeld-Kamerasystem namens EyeRIS, das nicht nur die Intensität, sondern auch die genaue Richtung des Lichts in einer Szene erfasst. Ein Mikrolinsen-Array zwischen dem Kameraobjektiv und dem Bildsensor zerlegt das Feld in mehrere Ansichten, ähnlich wie die mehrteilige Sicht einer Fliege.

Die rohen, unbearbeiteten Bilder von EyeRIS sehen aus wie wenn man während eines Films die 3D-Brille abnimmt. Man sieht mehrere versetzte Versionen desselben Objekts. Sobald die Aufnahmen jedoch nach Tiefe sortiert sind, werden sie in fein gerenderte dreidimensionale Videos aufgelöst, die es den Forschern ermöglichen, Verhaltensweisen und fein abgestufte Bewegungsabläufe zu beobachten, zum Beispiel dass Quallen Experten in Sachen Strahlantrieb sind.

Im Laufe der Jahrzehnte haben Forscher gelegentlich versucht, neue Arten ohne einen traditionellen Holotypus in der Hand zu beschreiben: eine südafrikanische Bienenfliege nur anhand von hochauflösenden Fotos, eine kryptische Eule mit Fotos und Rufaufnahmen. Das zog mitunter Zorn anderer Wissenschaftler auf sich. 2016 unterzeichneten beispielsweise Hunderte von Forschern einen Brief, in dem sie die Unantastbarkeit des traditionellen Holotyps verteidigten.

Doch 2017 veröffentlichte die Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur – dieses Gremium gibt das Regelwerk für die Beschreibung von Arten heraus – eine Klarstellung, nach der neue Arten auch ohne einen physischen Holotypus charakterisiert werden können, wenn es nicht möglich ist, ein Exemplar zu fangen.

2020 beschrieb ein Team von Wissenschaftlern, dem auch Collins angehörte, eine neue Gattung und Art von Kammquallen auf der Grundlage von hochauflösenden Videos. Sie wurde Duobrachium sparksae getauft und sieht aus wie ein durchscheinender Thanksgiving-Truthahn mit Luftschlangen, die von seinen Unterkeulen herabhängen. Bemerkenswerterweise gab es kein Murren von den Taxonomen, es wurde ein Sieg für die Befürworter von digitalen Holotypen.

Collins zufolge verstärken die Visualisierungstechniken des MBARI-Teams die Argumente für digitale Holotypen, da sie den detaillierten anatomischen Studien, die Wissenschaftler an physischen Exemplaren durchführen, noch näherkommen.

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Eine parallele Bewegung zur Digitalisierung bestehender physischer Holotypen gewinnt ebenfalls an Fahrt. Karen Osborn vom Smithsonian National Museum of Natural History erforscht wirbellose Tiere des Mittelwassers und ist Kuratorin für Ringelwürmer und Ranzenkrebse. Diese Tiere sind viel größer und leichter zu fangen als die Quallen des Mittelwassers.

Doch dann kam die Pandemie und unzählige Feldexpeditionen wurden durch Reisebeschränkungen zunichte gemacht. Ringelwurm- und Ranzenkrebsforscher "konnten nicht [ins Labor] gehen und sich irgendwelche Exemplare ansehen", erklärt Osborn, so dass sie im Moment nichts anhand von physischen Typen beschreiben können. Aber die digitale Sammlung lässt die Forschung boomen. Die Pandemie hat also den Nutzen hochgenauer digitaler Holotypen weiter unterstrichen.

Mit einem Mikro-CT-Scanner haben Smithsonian-Wissenschaftler Forschern auf der ganzen Welt Zugang zu Holotyp-Exemplaren in Form von "3D-Rekonstruktionen in kleinsten Details" gegeben. Wenn Osborn eine Anfrage für ein Exemplar erhält – was in der Regel bedeutet, dass sie den unbezahlbaren Holotypus per Post verschicken muss, inklusive des Risikos einer Beschädigung oder von Verlust –, dann bietet sie zunächst an, eine virtuelle Version zu schicken. Obwohl die meisten Forscher zunächst skeptisch sind, "antworten sie uns immer: 'Ja, ich brauche das Exemplar nicht. Ich habe alle Informationen, die ich benötige.'"

"EyeRIS und DeepPIV geben uns die Möglichkeit, Dinge in situ zu dokumentieren, was noch viel cooler ist", fügt Osborn hinzu. Während ihrer Forschungsexpeditionen hat sie das System bei Copelata in Aktion gesehen, kleinen wirbellosen Tieren, deren komplizierte "Rotzpaläste" aus abgesondertem Schleim Wissenschaftler nie vollständig intakt studieren konnten. Bis DeepPIV kam.

Katijas MBARI-Team denkt nun über Möglichkeiten nach, die Beschreibung von Arten nach dem Vorbild von Foldit zu gestalten, einem populären wissenschaftlichen Bürgerprojekt, bei dem "Spieler" eine videospieleähnliche Plattform nutzen, um die Struktur von Proteinen zu bestimmen. Auf ganz ähnliche Weise könnten Bürgerwissenschaftler bei der Analyse von Bildern und Scans helfen, die von ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen aufgenommen wurden. "Pokémon Go hat die Menschen dazu gebracht, in ihren Vierteln nach nicht realen Dingen zu suchen", sagt Katija. "Können wir diese Energie nutzen und Menschen nach Antworten suchen lassen, die der Wissenschaft nicht bekannt sind?"

(vsz)