Piep-piep, und weg ist das Geld

Eine wiederaufladbare, kontaktlose Smartcard verwandelt den Großraum Tokio in den weltgrößten Verkehrsverbund und ein e-Money-Paradies. Ein Selbstversuch.

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Von
  • Martin Kölling

Seit Wochen bereiten überall in Tokios Bahnen große Plakate auf den großen Tag vor: Den Start der Pasmo-Karte. Die kreditkartengroße, graue Plastikkarte mit dem rosa Schriftzug obendrauf und dem kontaktlosen Speicherchip innendrin soll den größten Verkehrsverbund der Welt schaffen und zugleich elektronischem Geld zum Durchbruch verhelfen. Quer durch den Großraum Tokio mit seinen über 30 Millionen Einwohnern soll eine Karte ihren Besitzer bringen, ohne dass der wie bisher bei jedem Umsteigen von der U-Bahn auf die S-Bahn oder einen Bus oder eine Straßenbahn immer wieder umständlich ein neues Ticket kaufen oder aus der Tasche hervorkramen und in die Fahrkartenschranken einschieben muss. Auch an Getränkeautomaten sowie Kiosken und Kaufhäusern soll man mit der Karte bargeldlos zahlen können. Der besondere Clou aber ist die optionale „Auto-Charge“-Funktion – damit schafft man die Illusion, in einem Schlaraffenland zu leben, wo das Geld endlos fließt. Sinkt der Stand dieser speziellen Karte unter 2000 Yen, schreibt sie sich an der Ausgangsschranke automatisch über die Kreditkarte des Kunden 3000 Yen gut. Nur leider ist der bargeldlose Bezahlspaß aus Sicherheitsgründen auf 48.000 Yen pro Monat begrenzt.

Ein Selbstversuch zeigt, das die Smartcard ihr Versprechen weitgehend hält. Am Sonntagmorgen kauft der Autor dieser Zeilen am Bahnhof der Tokioter Vorstadt Asaka eine Pasmo am Automaten. Er wählt eine personalisierte Karte, die sich erstens im Verlustfalle im gesamten Tarifgebiet sperren lässt. Und zweitens kann man mit ihr Mitglied im Pasmo-Club werden und dann detailliert die Einkäufe der vergangenen drei Monate studieren. Auf der Karte werden nur die letzten 20 Transaktionen gespeichert und auf Knopfdruck am Fahrkartenautomaten angezeigt oder ausgedruckt. Von den 3000 eingezahlten Yen werden beim Kartenkauf 500 Yen als Deposit abgezogen. Bleiben noch 2500 zum Verprassen. Und los gehts.

Als Teststrecke dient die schnellste, jedoch durch die Benutzung von drei unterschiedlichen Verkehrsbetrieben teuerste Route zur Deutschen Botschaft in Hiroo. Für die Tour werden mindestens zwei Karten benötigt, wenn wenn man eine so genannte SF-Card, eine vorausbezahlte Magnetkarte im Wert von 1000 bis 5000 Yen verwendet, oder drei, wenn man normale Karten kauft. Das hört sich so kompliziert an, wie es ist. Das Jonglieren mit diversen Karten und das Abwägen von Routen nach Fahrpreis und -dauer sowie Bequemlichkeit ist Alltag in Tokio. Eine Schilderung des bisherigen Zustands macht die Errungenschaft des Systems vielleicht verständlich: Von Asaka zum mit täglichen 2,8 Millionen Passagieren zweitgrößten Tokioter Bahnhof Ikebukuro fährt die Tobu-Tojo-Linie in 17 Minuten für 240 Yen. Also ein Tobu-Ticket kaufen, an der Eingangschranke in einen Schlitz schieben und zwei bis drei Schritte später wieder herausziehen. In Ikebukuro durch die Ausgangsschranke, die das Ticket schluckt. Zum Fahrkartenautomten der einst staatlichen Bahngesellschaft JR East, auf der plakatwandgroßen Netzkarte von Groß-Tokio Ebisu suchen, Fahrtpreis ablesen, 160 Yen einwerfen, Karten ziehen und wieder durch die Schranke zum Umsteigen in die Yamanote-Ringlinie. 14 Minuten später wiederholt sich das Spiel beim Umsteigen in die U-Bahnlinie Hibiya, die einen drei Minuten später und weitere 160 Yen ärmer in Hiroo abliefert. Zum Glück muss man noch mal Bus fahren, dann würde wieder eine Gebühr fällig. Auch so belaufen sich die Reisekosten auf satte 560 Yen.

Kleiner Exkurs: Ich könnte auch für 270 Yen fahren, wenn ich doppelt so lange zum nächsten Bahnhof laufen und dann eine Viertelstunde mehr Fahrtzeit mit der U-Bahn in Kauf nähme. Eine lohnende Alternative, zumal ich in der U-Bahn im Gegensatz zu den S-Bahnen meistens einen Sitzplatz bekomme, länger am Stück fahre und daher besser arbeiten oder lesen kann. Zu anderen Zielen gibt es gleich drei oder vier gleichwertige Routen zur Auswahl, dem dichtgefügten U- und S-Bahnnetz Tokios sei Dank.

Wieviel einfacher ist es mit der Pasmo-Karte. Um Misverständnissen vorzubeugen: Bei ihr handelt es sich nicht um eine Verbundfahrkarte, wie sie in vielen Regionen Deutschlands üblich ist, sondern um ein Zahlungssystem. Ich touchiere mit ihr an jeder Schranke einen Kartenleser, der in Sekundenbruchteilen den Einstiegsbahnhof auf der Karte notiert und beim Aussteigen den Fahrtpreis berechnet und gleich abbucht. Bei jeder Linie wiederholt sich der Vorgang. Ich kaufe also weiterhin verschiedene Tickets, nur merke ich es nicht mehr. Auch brauche ich nicht mühsam nach den Fahrtarifen zu suchen. Und meinen warmen Dosenkaffee kann ich am Kiosk auch gleich bargeldlos erwerben. Dabei wurde an alles gedacht: Beim Bezahlen wechselt der digitale Mammon mit einem bipiep den Besitzer. Piept es viermal, ist die Transaktion gescheitert.

Der Komfort ist den mehr als 60 teilnehmenden Verkehrsbetrieben eine Investition von rund einer Milliarde Euro für neue Schranken, Fahrkartenautomaten und Lesegeräte in Geschäften wert. Das Ganze ist Teil einer Initiative, den Personenahverkehr seniorenfreundlicher zu machen. Außerdem werden die Bahnhöfe mit Aufzügen und Rolltreppen nachgerüstet. Denn die Gesellschaften fürchten, dass die wachsenden Heerscharen von wenig fahrenden Rentnern wegen der schwierigen Fahrpreissuche und des andauernden Treppensteigens die Bahn meiden werden.

Die Lösung ihrer Probleme fanden sie gleich vor der Haustür. JR East hatte bereits im November 2001 die Suica für seine Linien eingeführt, mitsamt der Zahlfunktion für kleine Transaktionen. Sie nutzt den Felica-Chip von Sony, der bis März seit seiner Einführung 1996 in über 160 Millionen Smartcards und 40 Millionen Mobiltelefonen verbaut wurde. Damit ist der Chip De-facto-Standard in Japan. Darüber hinaus wird er in Bahnkarten Hongkongs, Singapurs, Thailands Hauptstadt Bangkok und der südchinesischen Industriemetropole Shenzhen eingesetzt. Beim Felica handelt es sich um einen RFID-Chip. Er kann über die Entfernung von wenigen Zentimetern in 0,1 Sekunden ausgelesen und beschrieben werden. Pasmo übernimmt die Systemarchitektur und beseitigt zusätzlich einige Hindernisse, die den Siegeszug des elektronischen Geldes bisher aufgehalten haben. Endlich werden die Groß-Tokioter die kompatiblen Pasmo- und Suica-Karten flächendeckend und nicht nur in JR-Bahnhöfen zum bargeldlosen Einkaufen nutzen können. Denn die privaten Bahngesellschaften führen auch riesige Kaufhäuser und werben daher aggressiv mit Zahlfunktion. „Karten wie diese sind für sie wichtig, weil sie Daten über das Einkaufsverhalten ihrer Kunden gewinnen können“, erklärt Duane Sandberg, Einzelhandelsanalyst der australischen Bank Macquarie in Tokio.

Vor allem müssen die Kunden – optionale Selbstaufladung vorausgesetzt – nicht mehr am Automaten die Karten mit Bargeld aufladen. Gleichzeitig hat Sony als erster japanischer Computerhersteller seine Notebooks mit Smartcard-Lesern ausgestattet. Und plötzlich gibt es ein relativ sicheres und massenhaft verbreitetes Zahlungsmittel für elektronisches Geld im Internet-Kommerz. Das Potenzial der als Fahrkarte verbrämten Zahlkarte ist damit explosiv für das Finanzwesen. Die Karte könnte den Lebensstil der Menschen verändern und die Rolle von Banken bedrohen, urteilt Hironari Nozaki, Bankenanalyst von NikkoCitigroup in Tokio. Denn plötzlich übernehmen neue Rivalen wie Mobiltelefongesellschaften mit ihren Geldbörsentelefonen, die Bahngesellschaften und Einzelhandelsketten das ursprüngliche Monopol bei Finanztransaktionen. Denn anders als in Deutschland haben Japans Banken den Vorstoß ins elektronische Geld ignoriert. Es gibt quasi keinen automatischen Einzug vom Konto an der Kaufhauskasse. Kreditkarten geraten auch erst seit Kurzen in Mode. „Sie dachten, es sei nicht profitabel genug“, sagt ein Bankexperte. „Es gibt Lastschriftkarten, aber wegen der hohen Unterhaltskosten sind die nicht so populär.“ Bisher dominierte Bargeld Japans Alltag.

Noch haben Japans Megabanken allerdings genug Zeit, auf den Zug aufzuspringen. Denn nicht nur Japans Senioren bevorzugen handfeste Scheine gegenüber unsichtbaren Daten. Auch die Jugend votiert oft gegen die Karte mit der automatischen Aufladung wie Hiroko Sato, eine Japanerin Anfang zwanzig. „Ich will die Kontrolle über meine Ausgaben behalten“, erklärt sie. Die Pasmo-Karte an sich ist offenbar extrem beliebt. Am Abend entschuldigte sich die Bahngesellschaft am Bahnhof Asaka, dass leider heute alle Smartcards aufverkauft seien. (wst)