Wie eine Polizei-App in den USA Daten von Aktivisten und Journalisten sammelt

"Intrepid Response" ist ein Werkzeug, mit dem amerikanische Behörden schnell und einfach Daten Verdächtiger einsammeln. Doch was passiert mit den Informationen?

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(Bild: Ms Tech)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Sam Richards
  • Tate Ryan-Mosley
Inhaltsverzeichnis

Im April 2021 war ein freischaffender Fotojournalist namens J.D. Duggan unterwegs, um über eine Demonstration in Brooklyn Center, Minnesota, zu berichten. Schnell nahmen die Dinge in dem Vorort Minneapolis' eine beunruhigende Wendung. Einige Tage zuvor hatte ein Polizeibeamter in Brooklyn Center den 20-jährigen Daunte Wright erschossen – und eine Gemeinschaft, die vom Mord an George Floyd vor weniger als einem Jahr noch immer schwer getroffen war, ging auf die Straße.

Als Duggan die Demonstrationen dokumentierte, umzingelten plötzlich "einige hundert" Beamte eine Gruppe von Demonstranten und Journalisten und forderten sie auf, sich auf den Boden zu legen. Die Beamten trennten Presse von Demonstrierenden, führten sie zu einem Parkplatz und begannen, jede Person einzeln mit ihren Handys zu fotografieren. Duggan schätzt, dass in dieser Nacht einige Dutzend Journalisten auf die gleiche Weise katalogisiert wurden, bevor sie wieder freigelassen wurden.

"Ich fragte, wohin die Bilder fließen würden," sagt Duggan. "Und ein Beamter sagte mir, dass sie einfach in ihr System gehen. Er hat mir nicht wirklich irgendwelche Details genannt. Er sagte, sie hätten dafür eben eine App."

Duggan reichte kurz darauf, am 17. April, eine Anfrage zur Herausgabe persönlicher Daten bei der Minnesota State Patrol ein. Am 19. Juli übermittelte die Landespolizei des Bundesstaates schließlich drei Seiten mit mehreren Fotos von ihm, den geografischen Koordinaten des Aufnahmeorts, dem Blickwinkel der Kamera und Informationen über den Beamten, der die Anwendung benutzt hatte. Die US-Ausgabe von MIT Technology Review forderte den Rest der Dokumente an, in denen Duggans persönliche Daten bis einschließlich Januar 2022 auftauchten – sowie alle Angaben über Sammlung, Aufbewahrung und Weitergabe der Informationen des Journalisten. Die Behörde teilte mit, dass die Daten mit einem Tool namens "Intrepid Response" gesammelt worden seien, das den Bildern automatisch Geodaten hinzufügte. Ein anderer Journalist, der ebenfalls in jener Nacht fotografiert wurde, Dominick Sokotoff, erhielt seine persönlichen Daten ebenfalls von der Landespolizei. Sie scheinen auf die gleiche Weise wie die von Duggan gesammelt und gespeichert worden zu sein.

Intrepid Response, ein Produkt des Herstellers Intrepid Networks, bietet der Behörde einfach zu bedienende Methoden zur Erfassung und Weitergabe von Informationen an, die die Person identifizieren, die ein Beamter per Smartphone erfasst hat. Die App war für die Strafverfolgungsbehörden, die Informationen über die Teilnehmer der Proteste in Brooklyn Center sammelten, von entscheidender Bedeutung, da sie es ihnen erlaubte, die Teilnehmer nahezu sofort zu deanonymisieren und sogar ihre Bewegungen zu verfolgen.

Die Fotos und Daten, die in Echtzeit über die App geteilt wurden, fanden ihren Weg in eines von drei bekannten Speichersystemen. Sie enthalten Fotos und persönliche Informationen über Personen bei den Protesten und sind nicht nur für die Landespolizei, sondern auch weitere Behörden einschließlich FBI zugänglich. Keiner der Journalisten, die bei der Berichterstattung über die Proteste fotografiert wurden, wurde eines Verbrechens angeklagt oder darüber informiert, dass sie Verdächtige sind, während ihre Daten gesammelt wurden.

Die Polizeibehörden in Minnesota stellten die gemeinsam genutzten Dokumente, Fotos, Tabellen und andere Datenbanken im Rahmen der Operation Safety Net (OSN) zusammen, einer behördenübergreifenden Maßnahme in Reaktion auf die Proteste im Zusammenhang mit dem Mord an George Floyd. Sie geht deutlich über das hinaus, was die Behörden gegenüber der Öffentlichkeit kommuniziert hatten – und OSN scheint noch heute anzudauern.

Nach Angaben des Minnesota Bureau of Criminal Apprehension haben mehrere an OSN beteiligte Behörden Zugang zu Intrepid Response, darunter die Minnesota State Patrol, das Rohstoffministerium des Bundesstaates (!) und das Minnesota Fusion Center. Solche Fusionszentren sind mittlerweile umstrittene Zentren für den Datenaustausch, die Informationen zwischen lokalen und bundesstaatlichen Strafverfolgungsbehörden, der Nationalgarde und anderen Einrichtungen analysieren und verbreiten. Auf der Website von Intrepid Networks ist zu lesen, dass das Saint Paul Police Department die Software Intrepid Response einsetzt, und in den Marketingunterlagen des Unternehmens findet sich eine Stellungnahme des stellvertretenden Polizeichefs der Behörde, in der er die Rolle der App während der Unruhen im vergangenen Jahr kommentiert. Wahrscheinlich konnten auch Bundesbehörden auf Informationen zugreifen, die über Intrepid Response gesammelt und an das Minnesota Fusion Center weitergeleitet wurden.

Eine E-Mail der Minnesota State Patrol an MIT Technology Review als Antwort auf Anfragen bezüglich der Datenerfassung von Reportern enthüllte erstmals, dass Intrepid Response tatsächlich eingesetzt wird.

Intrepid Response wird von den Telekommunikationskonzernen AT&T und Verizon sowie anderen Anbietern vertrieben und ist eine Kommunikationsplattform, die laut der Website von Intrepid Networks "eine geobezogene Lösung mit Multifunktions-Live-Mapping" ist – und die Möglichkeit bietet, "alle Mitarbeiter, markierte Objekte und selektierte Kartenbereich nahezu in Echtzeit anzuzeigen". Im Marketingmaterial rühmt sich die Firma, dass das "die nächste Generation der automatischen Erkennung kritischer Situationen" sei und "die ultimative Ressource für taktische Koordination und Informationen von der Frontlinie" darstelle. Die Anwendung, die wie jede andere Smartphone-App heruntergeladen werden kann, bietet Datenaustausch in Echtzeit, eine Plattform für die Koordinierung von Teams mehrerer Behörden, "hochsichere Teamkommunikation" (einschließlich Push-to-Talk und Instant Messaging) und mehr. Es ist also eine Art "Slack fürs SEK".

Die erfassten Informationen sind umfangreich. So enthält der von der Minnesota State Patrol herausgerückte Datensatz von J.D. Duggan eine Nahaufnahme von Duggans Gesicht und wie erwähnt die Geokoordinaten des Schnappschusses. Ein Bild von Duggans Presseausweis war ebenfalls in der Datei enthalten.

Britt Kane, Chief Executive Officer von Intrepid Networks, betont, dass das Tool entwickelt wurde, um die Transparenz zu erhöhen, die Reaktionszeit zu verkürzen und letztendlich Leben zu retten. Laut Kane bietet Intrepid Response drei Kerndienste: Geo-Mapping, Notfallbenachrichtigung und eine Kommunikationsplattform für den Austausch von Nachrichten und Fotos.

Auf die Frage, ob die Firma über den Vorfall in Brooklyn Center besorgt sei, sagte Kane, man kenne den Vorgang nicht. "Ich werde nicht sagen, ob ich besorgt oder nicht besorgt bin. Ich weiß, was unser Tool macht, und das hier sind keine nachrichtendienstlichen Operationen." Kane zufolge stehe das Unternehmen "voll und ganz hinter der Mission der Strafverfolgung" und sei nicht in die anderen Werkzeuge eingeweiht, die die Daten von Intrepid Response nutzen könnten. Intrepid Response habe keine Richtlinien für die erweiterte Nutzung von Daten und berate die Behörden auch nicht im Bezug auf deren gemeinsame Nutzung, weil es "für uns einfach keine Notwendigkeit gibt, das zu tun".

Kane wollte nicht verraten, wie viele Kunden Intrepid Response hat, aber es hieß, dass die Software Strafverfolgungsbehörden, Feuerwehren und andere öffentliche Notdienste sowie einige kommerzielle Anbieter unterstützt und sie "praktisch in allen 50 Staaten" eingesetzt wird. Der Firma ist "kein anderes Produkt bekannt, das mit Intrepid Response konkurriert".

Mit Intrepid Response können Beamte Daten sammeln, die zumindest theoretisch auf unzählige Arten analysiert werden könnten. Eine Untersuchung der US-Ausgabe von MIT Technology Review ergab, dass Beamte Listen von Personen erstellt haben, die an Protesten teilnehmen – offenbar, um diese zu überwachen. Das Minnesota Fusion Center hat über das Homeland Security Information Network, ein sicheres Netzwerk, das während der Operation Safety Net eingesetzt wurde, auch Zugang zu Gesichtserkennungstechnologie. Das Hennepin County Sheriff's Office (eine weitere an OSN beteiligte Behörde) verwendet ebenfalls die so genannte Investigative Imaging Technology – ein anderer Begriff für Gesichtserkennung.

"Diese Art der informellen behördenübergreifenden Koordinierung fördert das "Policy Shopping", bei dem die Behörde mit den am wenigsten restriktiven Datenschutzbestimmungen Überwachungsmaßnahmen durchführen kann, die anderen Behörden verwehrt bleiben", kommentiert Jake Wiener, Mitarbeiter des Electronic Privacy Information Center und Experte für Fusionszentren und Demonstrationsüberwachung in den USA. "Das bedeutet insgesamt mehr Überwachung, weniger Kontrolle und ein höheres Risiko von Schikanen oder politischen Verhaftungen." Darüber hinaus könnte Intrepid "ein Forum bieten, in dem viele Behörden einen Beitrag leisten, aber keine Behörde für die [ethische] Überwachung und Prüfung zuständig ist". Dies mache die App "reif für Missbrauch".

Es ist unklar, wo die persönlichen Daten von Duggan und den anderen Journalisten letztlich gelandet sind, nachdem die Minnesota State Patrol sie über Intrepid Response weitergegeben hat. Gordon Shank, ein Sprecher der Minnesota State Patrol, teilte mit, dass die Fotos über Intrepid Response für das Minnesota Fusion Center und das Rohstoffministerium zugänglich waren. Die Minnesota State Patrol speicherte die Fotos schließlich als PDF-Datei in einem elektronischen Ordner, der der Behörde zugeordnet ist. Shank sagte auch, dass die Fotos nicht analysiert wurden und dass sie wegen eines anhängigen Rechtsstreits noch nicht gelöscht worden sind.

"Wir haben keine Straftat begangen, und doch wurden unsere Daten gespeichert. Ich glaube, das ist ein Schritt in Richtung Autoritarismus und hat negative Auswirkungen auf die freie Presse", sagt Chris Taylor, ein freier Mitarbeiter des Minneapolis Television Network, der von der Minnesota State Patrol fotografiert wurde. "Das widerspricht dem amerikanischen Freiheitsgedanken." Sokotoff, der Fotojournalismus an der Universität von Michigan studiert, hat den Vorfall live getwittert. "Es war anders als alles, was ich bisher gesehen habe – und es war extrem beunruhigend", sagt er.

Alle diese Vorfälle scheinen von der Minnesota State Patrol ausgelöst worden zu sein, die vor kurzem einen Rechtsstreit über die Behandlung von Journalisten während der Proteste außergerichtlich beigelegt hat.

Am 17. April unterzeichneten mehr als 25 Medienunternehmen, darunter die lokalen Sender Minnesota Public Radio und Star Tribune sowie die New York Times, Gannett, Associated Press und Fox/UTC Holdings, ein Schreiben an Minnesotas Gouverneur Tim Walz; am selben Tag wurde eine einstweilige Verfügung gegen die Minnesota State Patrol erlassen.

Die Landespolizei reagierte öffentlich mit einer Pressemitteilung der Operation Safety Net, in der es hieß, dass die Beamten "Journalisten und ihre Ausweise und Führerscheine am Tatort fotografierten, um den Identifizierungsprozess zu beschleunigen ... Dieses Verfahren wurde als Reaktion auf die im letzten Jahr von den Medien geäußerten Bedenken bezüglich der Zeit, die für die Identifizierung und erneute Freilassung von Journalisten benötigt wurde, eingeführt."

Die Taktik "scheint keinem Zweck der Strafverfolgung zu dienen, abgesehen von der Einschüchterung von Reportern, die ihre Arbeit machen", glaubt Parker Higgins, Leiter der Interessenvertretung der Freedom of the Press Foundation, die den Vorfall untersucht hat. "Und jetzt, fast ein ganzes Jahr später, gibt es immer noch keine klaren Antworten darauf, warum die Fotos gemacht wurden, wie die Bilder geteilt oder gespeichert wurden und ob diese Daten in den Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden bleiben."

(bsc)