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Was war. Was wird.

Nichts versinnbildlicht die Genforschung mehr als ein Hase, der bunte Eier legt. Da mag das Verschwinden als Alternative erscheinen, funktioniert aber weder im Internet noch in der Politik, meint Hal Faber.

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Ostern ist das Fest des Klonens und Kenterns. Nichts versinnbildlicht die Gefahren der Genforschung mehr als ein Hase, der bunte Eier legt und diese dann dem Menschen unterjubelt. Nichts zeigt das Problem angewandter Technologiefolgeabschätzung mehr als der Untergang der Titanic vor 89 Jahren. Doch dort, wo täglich Dot.Coms untergehen und der gemeine Bobo am Fortschritt des Internet verzweifelt, ist der Untergang eines Fortschrittsmythos kein Thema mehr. 4,6 Billionen US-Dollar wurden nach einem Bericht der Business Week seit Beginn der New Economy im Jahre 1997 vernichtet. Besonders interessant sind die Erfolgsgeschichten der Inkubatoren und Venture-Kapitalisten, die das Blatt auflistet. Eine Kapitalrendite von -95% (CMGi), -91% (Hummer Windblad) oder -84% (idealab!) lässt klassische Schiffsbaubeteilungsmodelle alt aussehen.

*** Dafür gibt es dann neue, Beteiligungsmodelle, meine ich, oder von mir aus auch Titanics: Cultureworx nennt sich eine Firma aus der schönen Stadt Mount Prospect im amerikanischen Illinois. In der vergangenen Woche stellten die Kulturwerker vom Schürfberg unter dem Titel "Big Brother Was Wrong" ein neues Betriebssysstem vor, nur eben nicht für Computer, sondern für programmierbare Menschen: "Wir nennen unsere Software 'Betriebssystem für menschliches Verhalten', weil sie genauso verlässlich wie das Betriebssystem in einem Computer funktioniert und verlässliche Daten über das menschliche Verhalten liefert." Die Performance Management Software ist nach Aussage des Chefs von Cultureworx so gut, "dass George Orwell in uns investieren würde und niemals Schriftsteller geworden wäre". Nun hat George Orwell mehr als die Geschichte vom Big Brother geschrieben, den Cultureworx mit einer Software abschaffen will, "die alles über einen Mitarbeiter weiß und von diesem begeistert benutzt wird". Auf dem Weg nach Wigan Pier kam Orwell leider nicht am Mount Prospect vorbei. Da wäre er wohl glatt abgestürzt.

*** Vom berechneten Menschen zum berechnenden Menschen ist es nur ein kleiner Schritt: "Wenn ich ein Mädchen treffe, braucht sich dieses nur meinen Namen zu merken, um mich jederzeit über das Internet zu erreichen." Mit diesen Worten begründete der israelische Programmierer Tomer Crissi seine Namensänderung in Tomer.com, die von den Behörden in seinem Land akzeptiert wurde. Hoffentlich irrt sich Herr Tomer.com nicht. Mädchen, die solch einen Schwachkopf interessant finden, werden vielleicht getrübten Hirnes zu Toner.com surfen und sich in eine Tinten-Kartusche verknallen.

*** Aber das Finden folgt sowieso manchmal seltsamen Gesetzen, nicht nur bei Tomer.com. Wird ein Dateiname geändert, ist der Inhalt schnell unauffindbar, auch im wirklichen Leben. In Wien wurde eine Kartei der Gestapo entdeckt, die über 12.000 Einträge enthält, aber unter falscher Beschriftung im Archiv gelagert war. In einer Auswahl soll diese Kartei nun im Internet publiziert werden, auch um zu beweisen, dass es mehr als nur der Hollerith-Maschinen bedurfte, den Volkskörper zu reinigen. Vielleicht wäre die Karte aber erst gar nicht verschwunden, hätte die Wiener Gestapo mit Rechnern der deutschen IBM-Tochter gearbeitet – selbst wenn deren Betriebssysteme auch nicht so zuverlässig sind, wie uns Cultureworx glauben machen will.

*** Was man findet, und was lieber versteckt bleibt, darüber dürften manche Leute unterschiedlicher Ansicht sein. Mancher mag angesichts der tränendrüsendrückenden Familiengeschichte unseres Kanzlers in der Bild am Sonntag flehen, sie wäre verborgen geblieben. Mancher mag angesichts des Bestrebens eines gewissen Innenministers, sich an die Spitze der Scriptkiddies zu setzen, sein Verschwinden als ehemaliges Mitglied in den Fraktionskämpfen der Grünen herbeisehnen. Manch Oppositionspolitiker möchte angesichts neuer, unbehaarter und seltsam gewandeter Freunde die Nationalstolzdebatte inzwischen wieder dem Vergessen anheim geben. Derenthalben sei zumindest diesen ein deutscher Philosoph ans Herz gelegt, dessen "Welt als Wille und Vorstellung" zum tumben Schlagwort verkam und solcherart vielen deutschen Politiker als Leitspruch zu dienen scheint. Wer hinter die Schlagwörter blickt, findet folgendes, wenn auch nicht im unbekannterweise berühmtesten Werk: "Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. [...] Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein." Wem Arthur Schopenhauer zu kompliziert ist, für den fasste es ein deutscher Kabarettist knapp zusammen: "Dummheit und Stolz wachsen auf demselben Holz." Als ob Schopenhauer und unsere Kabarettisten nicht nur die Nationalstolzdebattierer, sondern auch die trotz abstürzender Firmen und Aktienkurse stolzgeschwellten Truthähne und -hennen der deutschen New Economy gekannt hätten.

*** Ob Novell dumm ist, müssen die Aktionäre und die Beschäftigten entscheiden – möglicherweise auch die Anwender, aber die achten hoffentlich weniger auf den Stolz einer Firma als auf das, was aus deren heiligen Hallen bis zu ihnen vordringt. Stolz ist jedenfalls Novell, und zwar ausgerechnet auf das Verschwinden. Vier Jahre lang war ein NetWare-Server der Universität von North Carolina verschwunden, jedoch ohne jedwede Fehlermeldungen des Netzwerkes. In einer detektivisch angelegten Untersuchung fand man heraus, dass der Server gesund und munter arbeitete. Nur den Server fand man nicht. Mit Hilfe von Spezialisten eben jener Firma Novell folgte man schließlich zentimetergenau den Kabeln, die zum Server führten: Der Arme war bei Bauarbeiten einfach eingemauert worden und in Vergessenheit geraten. Ein Schicksal, das dem von Novell nicht unähnlich ist.

*** Manchmal ist auch das Verschwinden interessant. In den USA muss der Satz "On AOL your privacy and security are always protected" aus der AOL-Werbung entfernt werden. Er könne in die Irre führen, befand die National Advertising Division (NAD), in etwa das Gegenstück unseres Werberates. Ein solch weit reichenden Schutz der Privatsphäre könne AOL nur für den Aufenthalt in seinen eigenen Angeboten abgeben, nicht für das Surfen im Internet. Nun streiten sich AOL und die NAD über den Gehalt der Formulierung "On AOL". Bald wird auch bei uns eine Expertenkommission darüber beratschlagen müssen, was bei "Ich bin drin" wohl das "drin" ist.

*** Manche Dinge verschwinden nun aber, weil sie nie drin oder draußen waren. So drang ein gewisser Yuri Gagarin am 12. April vor genau 40 Jahren in den Weltraum vor und umrundete als erster Mensch im All die Erde. Was der Sowjetunion als Beweis ihrer Überlegenheit vor den USA galt und einen höheren Chargen des deutschen Ablegers der KPdSU zu dem vermeintlich dialektischen, in Wirklichkeit aber nur verdrehten Anspruch "Überholen ohne Einzuholen" veranlasste , gab Anlass auch zu Gagarins Rede, er sei um die Erde geflogen, habe geschaut und geschaut, aber keinen Gott gesehen. Nun, da waren wir ja schon damals froh, dass hinter den Wolken und den sieben Bergen kein weißbärtiger Greis sitzt und auf uns aufpasst. Vielleicht hätten sich sowohl die USA als auch die Sowjetunion schon zu damaligen Zeiten weniger auf den Nationalstolz und, je nach Standpunkt, auf die Suche nach dem Gottes- oder Anti-Gottesbeweis konzentrieren sollen. Dann müssten wir uns möglicherweise heute nicht mit den Nachwirkungen dieses so genannten Kalten Krieges herumschlagen: Dumpfen US-Präsidenten, die kaum einen zusammenhängenden Satz herausbringen, dafür jede Konfrontation mit dem atheistischen China suchen, und Präsidenten Russlands auf der anderen Seite, die weder Korruption noch Mafia, dafür aber regierungskritische Fernsehsender in den Griff bekommen. Was wiederum zeigt, dass Technik eben nicht wertneutral ist: Sonst hätte es in Zeiten der Raumfahrt keinen kalten Krieg gegeben, sonst gäbe es in Zeiten des Internet keine Nationalstolzdebatte.

*** Vielleicht wären uns dann auch die Bobos erspart geblieben, die mit dem Versprechen, die New Economy setze alle kapitalistischen Marktgesetze außer Kraft, noch jeden Analysten hinters Licht führten. Wie sie das machten, demonstriert die deutsche Übersetzung des Buchs Bobos in Paradise, auf das der schöne Begriff für unsere Dot.Com-Helden zurückgeht. Während der konservative Journalist David Brooks, Schreiber eben dieses Buchs, den Bobos im Namen uramerikanischer Werte die Leviten lesen will, bewirbt der deutsche Verlag den Schinken ganz im Sinne der Bobos: "Der 'bourgeoise Bohemien' ist ein neuer Typus, der idealistisch lebt, einen sanften Materialismus pflegt, korrekt und kreativ zugleich ist und unser gesellschaftliches, kulturelles und politisches Leben zunehmend prägt." Sanfter Materialismus? Na, da werden sich aber ein paar Leute freuen: Endlich entdeckt jemand, dass es politisch korrekt ist, sich den Arsch mit Öko-Klopapier abzuwischen und dafür drei Mal im Jahr auf die Bahamas zu jetten. Übrigens wusste ich gar nicht, dass unser Außenminister auch ein Bobo ist. Aber man lernt ja nie aus: "Wohlstand und Rebellion", so laut Ullstein die Parole der Bobos – auf zu neuen Ufern.

*** Zu neuen Ufern möchte auch eines der Urgesteine der deutschen Old Economy. Möglicherweise hat die Allianz-Versicherung auch nur ein paar Bobos eingestellt, die die Dresdner Bank auf Linie bringen sollen. Dabei entdeckten sie gleich neue Betätigungsfelder. Denn auch dieser unser Konzern erfindet das Internet und will es sauber halten. Wo kämen wir auch hin, wenn jemand in den Weiten des Netzes den geheiligten Namen der Versicherung missbrauchte. So geht die Allianz nun gegen nationale-allianz.de vor, einen Clan des nicht unbeliebten Computerspieles Counter Strike. Angenehmer Nebeneffekt: Unsere Jugend entgeht den Untiefen der gar verderblichen Games und konzentriert sich auf die eigentlichen Werte. Etwa Lebensversicherungen zu verkaufen oder Firmen mit selten dämlichen Geschäftsmodellen zu gründen. Dafür bemüht man gerne mal einen Anwalt, zumal dessen Kosten die Kids von der Clan-Seite zu zahlen haben. Worauf man heutzutage hierzulande so alles stolz sein kann...

Was wird.

Die Wochenvorschau blickt auf ein Ereignis, für das das Wort Revolution einfach zu schwach ist. PR-Fachleute greifen in solchen Fällen gern zur Watershed. So eine Wasserscheide ist irgendwie noch mehr, wenn sich Milliarden von Wassertropfen umdrehen und in die andere Richtung fließen oder sich das Wasser teilt. Eine Wasserscheide fand am 19. April 2000 statt und wir danken alle Compaq. Die Firma feiert mit der Nachricht und einem "großen, denkwürdigen Jubiläumsfest" das Einjährige, das Fest der Informationsrevolution, den 19. April eben, an dem der erste iPaq erschien und die "mobile Existenz von Unternehmensdaten Wirklichkeit wurde". Vor dem iPaq rührten sich die Unternehmensdaten offensichtlich nicht von der Stelle, was immerhin die Buchhalter erfreute. An den 19. April wird man sich noch erinnern, wenn die Erinnerung an die Titanic und diesen Eisberg Di Caprio längst geschmolzen ist.

Eine Revolution ganz anderer Art bleibt wohl leider aus. Zwar vermeldete das US-Handelsministerium, die Verwaltung der Domain .edu gehe demnächst vom Ex-Domain-Monopolisten Verisign/NSI, dem die ICANN gerade für einige weitere Jahre ein Quasi-Monopol auf .com zuschanzte, an eine Organisation über, die mehr von den Bildungseinrichtungen verstünde. Aber so ganz koscher scheint die Geschichte nicht zu sein, meint der Journalist Keith Dawson. Denn das wird tatsächlich: Educause, eben diese Organisation, möchte wohl die Registrierungs-Datenbank für die .edu-Domain gar nicht selbst betreiben, sondern das von jemand anderen erledigen lassen. Vom wem? Von NSI natürlich... Dass der ehemalige ICANN-Chef Michael Roberts früher bei Educause arbeitete, verwundert da nur noch am Rande. In diesem Sinne ein österliches "Wohlstand und Rebellion"! (Hal Faber) / (jk)