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Was war. Was wird.

Manches betrachtet man besser auf dem Kopf stehend, meint Hal Faber -- zumindest, wenn man in jüngster Zeit das Wörtchen Enigma hört.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

**** Als Feng seinen Tod nahen fühlte, sprach er: "Ich selbst habe die Meister liegend oder sitzend, doch niemals aufrecht stehend sterben sehen. Habt ihr je von Meistern vernommen, die stehend eingeschlafen wären?" Die Mönche erwiderten, einzelne derartige Fälle seien überliefert. "Und wisst ihr von einem, der auf den Kopf stehend die Erde verlassen hätte?" "Bis zum heutigen Tage nicht," lautete die Antwort. Daraufhin stellte Feng sich auf seinen Kopf und verschied.

Mit diesem Zitat aus dem Zen-Buddhismus leitete Pierre Bourdieu 1965 seine Untersuchung der Photographie als Kommunikationsform, als "illegitime Kunst" ein. Nun ist er tot, und wenn man die Nachrufe in Deutschland und Frankreich Revue passieren lässt, bleibt der Eindruck, dass da jemand auf dem Kopf stehend gestorben ist. Nun, zwischen einem aufgeregten Wichtigtuer und einem großen Soziologen ist etwas Spielraum für den Mann, der das "Elend der Welt" schildern konnte, den Globalisierungsgegnern auf die Sprünge half und dafür das Internet für eine schicke Sache hielt. Wenn nächste Woche beim WEF-Treffen der Homo Davosiensis (Richard Sennett, nicht Bourdieu) in New York unter dem Motto "Leadership in Fragile Times" die feinen Unterschiede zwischen Führerschaft und unbeschränkter -- ja, was denn, genau: Solidarität ausgehandelt werden, wird Bourdieus Stimme fehlen. Und, liebe Bobo-Hasser und Bobo-Hasserinnen, ist es nicht an der Zeit, Bourdieu als Geburtshelfer der Fobos zu würdigen? Auf in den Gedenk-Kopfstand, man muss ja nicht sterben dabei.

*** Wer nun glaubt, es seien nur Leute wie Otto Schily, die mit Kopf Stehenden nicht zurecht kommen, sieht sich getäuscht. Auch wer sich "gegen den Strom eines gekrümmten Kommunismus und Sozialismus" stemmt, bringt möglicherweise beim "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen" (Rudi Dutschke), nur unleserliches Kauderwelsch zu stande. So sind die Kopf Stehenden möglicherweise beiden Lagern zu wider, wohl auch deswegen, weil sie wissen, das zu den berühmten "kleinen Unterschieden" (Pierre Bourdieu) die Frage gehört, was öffentliches Wissen ausmacht. Schließlich gibt es mehr als eine Wissens-Allmende, auf der die heiligen Kühe der Open Source im Dorf der Zauberer gemästet werden. Verwaltungen, Landesämter und Behörden aller Art produzieren Material, das der Gemeinschaft gehören kann -- oder auch nicht. Zu den untergegangenen Meldungen gehört ein Anschreiben der EU zum Umgang mit öffentlichen Informationen. Es darf Widerspruch eingelegt werden, ob sie in der treuhänderischen Verwahrung von Verlagshäusern nicht besser aufgehoben sind. Sie machen daraus Content, der bezahlt werden muss. Und das ist auch gut so?

*** Was die Frage nach den führenden Intellektuellen Deutschlands anbelangt, so googlet sich Kim Schmitz prächtig, natürlich hinter Stefan Münz, dem Mann für freies HTML. Jedes Wort zu Kim Schmitz ist ein Wort zuviel, dröhnt es aus den Foldern des Heiseforums. Grundsätzliche Zustimmung -- wen interessiert es schon, wenn Market, das Magazin für Online-Commerce, den Mann mit seiner Verhaftung als Aufsteiger der Woche feiert? Aber die Chronistenpflicht der abseitigen News muss es vermelden: Der Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung schreibt an diesem Wochenende davon, wie dankbar man bei dem kräftig in die Gewinnzone strebenden StartDurch Letsbuyit.com für die 1,15 Millionen Euro von Kim Schmitz immer noch ist. Dankbarkeit ist eine Tugend, die besonders gut kommt, wenn die Aktie mit 4 Cents notiert. Auf dem Niveau kommt die E-Ökonomie gewaltig in Schwung, wenn 10 Cents erreicht werden.

*** Eine weitere SZ-Meldung dieser Woche beschäftigte sich im Bayernteil der Zeitung mit der Einführung der rechnergesteuerten Gesichtskontrolle im AKW Grundremmingen. Dort stößt der digitale Türsteher auf "wohlwollende Akzeptanz" bei den Betroffenen und den Datenschützern, heißt es im Blatt. Der Vertreter der installierenden ZN AG wird ganz unbefangen zitiert: "In etwa einem halben Jahr werde seine Firma zudem ein neues Videoüberwachungssystem präsentieren. Dabei würden allein die Personen in einer Menschenmenge unverschlüsselt dargestellt, die der Computer als gesuchte Verbrecher erkenne." Na, das findet doch unser aller Wohlwollen, dieser Negativabdruck der offenen Gesellschaft und ihrer Feinde (Popper, österr. Intel.). Warum wohl gleich eine Menschenmenge gescannt wird? Laufen die AKW-Arbeiter in Rudeln zum Arbeitsplatz? Würde Minister Schily nicht so sehr mit dem Bundesverfassungsshredder beschäftigt sein, hätte er hier willkommene Gelegenheit, seinen Katalog zu komplettieren.

*** Schmutz, alles Schmutz, diese Verdächtigungen? In den USA ist man weiter. Da gibt es Dirt und DIRT, die Data Interception by Remote Transmission, ein System, das die Firma Codex Data System an alle Behörden verschenkt, die sich im Kampf gegen den Terror befinden. Damit sich die Sache verbreitet, hat man die Software PC Phone Home entwickelt, die unter unverfänglichem Label verkauft wird und besser sein soll als selbstgestrickte Lösungen oder Software, die das Formatieren einer Platte nicht überlebt. Irgendwo auf dieser Welt wird die universale Datenbank aller reisenden Computer aufgebaut -- die verbrecherischen Festplatten natürlich unverschlüsselt im Zugriff.

*** Was aber erregen wir uns, wo doch die wirklich wichtigen Dinge in der Vergangenheit erledigt wurden. So beschäftigt der Film Enigma dieser Tage die Gemüter, für die die Welt nicht farbig, sondern schwarz-weiß gestrickt ist. Alan Turing, der Mann, "dem wir so viel zu verdanken haben, dass wir heute nicht unter den Nazis leben" (Douglas Hofstadter), kommt in dem Werk nur am Rande vor. Dafür ist ein fiktiver Tom Jericho am Werke, der es zudem mit Frauen hat und auch sonst schwer mit anderen Berechnungen beschäftigt ist. Turing war andersrum und aß am Ende einen vergifteten Apfel, alles ganz inkompatibel für einen von Mick Jagger mitproduzierten Film: "Selbstmord im pöbelhaft bigotten England, wo dem schimpflichen Begräbnis noch die Einbeziehung des Nachlasses folt, weil Wahnsinn unterstellt wird." (Schopenhauer). Aber: Wer sollte Turing in einem Deutschland verstehen, das sich an Dinner for One ergötzt und das philosophische Dinner meidet? Wo der Hacker Admiral Bonn-Schneider heißt? Nein, nein, stattdessen ergötzt sich ein Thomas Gottschalk an einem verlegen in der Gegend herumstehenden Mick Jagger und unterhält sich mit dem ehemaligen Rock-Heroen über Themen, von denen er nicht die blasseste Ahnung hat -- sei es nun Rockmusik, sei es Kryptographie. Wetten, dass?

Was wird.

Heute vor 35 Jahren wurde der Weltraumvertrag unterzeichnet, der etwas großspurig als Magna Charta des Universums herumgereicht wird. Kleine grüne Männchen, Mausbiber und Schleim von fernen Galaxien waren nicht beteiligt. Ich habe einen Nachbarn, dem 1756 der König Friedrich von Preußen den Mond geschenkt hat, was im Weltraumvertrag schlichtweg vergessen wurde. Doch wer traut schon Königen. Letzte Woche brach in Holland ein Chat mit dem zukünftigen Königspaar zusammen, angeblich ramponiert durch argentinische Hacker. Was wird wohl beim Chat mit Georg Mildbradt passieren, den der MDR unter dem Titel "Der König tritt ab" am Montag produziert? König irritiert natürlich in einem Land, das nur einen Kaiser hat. Oder zwei.

Einen Kollateralschaden meldet die Multimediamesse Milia, die in Cannes zelebriert wird. Auf der Messe, auf der Nintendo seinen Europa-Start des Gamecube zelebriert, musste fast der komplette Think Tank Summit ausgetauscht werden. Früher reisten Star-Denker wie Nicholas Negroponte oder Thomas Middelhoff von Davos aus zu einem Abstecher ans Mittelmeer. Von New York gesehen, ist der Umweg länger. Da hilft alle Globalisierung nix. Mit Wheels of Zeus ginge es vielleicht, doch auf der Erde hilft nur Segway. (Hal Faber) / (jk)