4W

Was war. Was wird.

Palindrome haben ihren eigenen Reiz, lassen aber nicht jedem die Zeit, die notwendig wäre. Die Zeit aber, wird sie zur Geschichte, ist ein rechter Flattergeist, meint Hal Faber.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 28 Kommentare lesen
Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Gratulation! Beowulf Schaeffer, cd, Raver und Ylai haben den Pali-Nagel auf den Kopf getroffen. Genau um 20:02 am 20.02.2002 bereicherten sie das Heise-Forum mit ihren Beiträgen, das Zeit-Palindrom zu Ehren. Der Wettbewerb wird fortgesetzt: am 21.12.2112 werden wir um 21:12 ins Forum sehen, was alles mit Linux nicht passiert wäre. Bis dahin ist etwas Zeit, das Palindrom zu genießen und über den Satz "Vitaler Nebel mit Sinn ist im Leben relativ" zu grübeln.

*** Zeit, die die Firma Logica übrigens nicht hatte: Sie wollte am 20.02.2002 um 20:02 ins Guiness-Buch der Rekorde, und zwar mit der schnellsten SMS, die jemals rund um die Erde geschickt werden sollte. Terminschwierigkeiten bei den Beteiligten führten indes dazu, dass Logica ihre Rekordjagd schon um 15:40 beginnen musste: Auf der Messe GSM World zu Cannes wollte niemand bis in die Abendstunden ausharren. 197,53 Sekunden später war "Be Global, FR SA BR NA AU CH" rund um den Ball -- die Abkürzungen stehen für die Stationen, an denen die SMS weiter geleitet wurde. Dabei unterbot man nicht die selbst gesetzte Marke von 160 Sekunden, die angeblich mit einer E-Mail erzielt wurde. 2112 dürfte es besser klappen, vielleicht mit einem Transfer des PR-Managers, sollte die Welt dann noch im Zustand selbst verschuldeter Public Relations dämmern. Dann ist die Hand schon in Brasilien, während der Arsch noch in Südafrika weilt.

*** Warum die 160 Sekunden unüberbietbar sind, hat übrigens einen einfachen physikalisch-public-relationischen Grund: Das Zentrum des Internet liegt in Ulm, nicht in Bielefeld. Je weiter man sich von einem Zentrum entfernt, desto höher muss die Beschleunigung sein. Das Zentrum des Internet wurde übrigens -- Überraschung! -- am 20.02.2002 um 20:02 von der Ulmer Firma GPS gefunden und mit einem 200,2 kg schweren Nagel markiert. Wer es nicht glaubt, kann immer nachlesen, wozu PR-Flaks fähig sind. Mir dreht sich regelmäßig der Verstand um, aber anders als bei Rundkopf Picabia. Und dann gibt es noch Mägen, die bei Ziegenkäse-Bonbons und Seeteufel an Rind revoltieren.

*** Ich hör sie schon, die Stimmen. Nun sei nicht so, Hal, und gönne den armen Teufeln ihre 15 Minuten Ruhm in einer Stadt, die noch langweiliger als Hannover ist. Oder hast du etwas gegen gewöhnliche Leute, die in gewöhnlichen Gegenden leben? Aber nein! Ich liebe die Peripherie! Wie wäre es mit Thüringen, das gerade mit dem Slogan "Denken Willkommen!" und einer Aufnahme einer legendären Erfinder-Garage im Stile Hewlett-Packards wirbt? Das ist doch eine Alternative zu Nordrhein-Westfalen und seinem "Denken Verboten", das zur ersten Internet-Provider-freien Zone Deutschlands erklärt wird. Oder zum Saarland, wo eine Firma in der Karl-Marx-Straße sitzt und zur CeBIT mit einem Programm namens Orvell debütiert, das erklärtermaßen das Ziel hat "unbemerkt alle Computer in einer Firma lückenlos zu überwachen". Die damit wirbt, dass Orvell "auf Wunsch des Anwenders alle Tastaturanschläge aufgezeichet"? Welcher Anwender wünscht so etwas und zu welchem Nutzen? Bleibt am Ende vielleicht nur die temporär autonome Zone Berlin übrig, über der Blaue Engel für den Datenschutz flattern?

*** Zu Berlin übrigens beschrieb Walter Benjamin einstmals über das Wesen der Geschichte einen solchen Flattergeist: "Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Was Benjamin über Engel wusste, hatte er von Gershom Sholem, der die Seraphim, Cherubim Elohim und Ofarim Zeit seines Lebens studierte. Was wir über Benjamin wissen, verdanken wir Sholem, der seine Handschrift entziffern konnte. Der Experte für kabbalistische Schriften schrieb als einer der Ersten im Jahre 1929 über die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern in Palästina. Vor 20 Jahren starb Gerhard Sholem am 20. 2. in Jerusalem. Heute steht der Staat Israel vor den Trümmern seiner Geschichte. Ein Versuch des Verbandes der israelischen Softwareindustrie, sein palästinensisches Gegenstück für eine Aufnahme in die WITSA vorzuschlagen, wird dieser Tage von der Regierung Sharon abgeblockt: Wenn Palästinenser programmieren, programmieren sie Terror.

*** Den 20. 2. 2002 nutzte der Online-Versender Amazon für eine Einführung einer Versandkostenpauschale, die den Kunden in einer PR-technischen Meisterleistung schmackhaft gemacht wurde. Alles muss Geld kosten, was über das Internet bestellt und im Internet gelesen wird. Irgendwie müssen die Handelsträume des virtuellen Kapitalismus bezahlt werden. Besonders schön macht es sich da, wenn Verbände das Ende des kostenlosen Internet fordern oder wenn eine englisch tümelnde Arbeitsgemeinschaft Internet Research in einer nicht näher ausgeführten Umfrage davon faselt, dass 50 Prozent der User (der befragten?) bezahlten Content für realistisch halten und weitere 39 Prozent vom Bezahlen restlos überzeugt sind. Ho, ho, ho, lacht da der Weihnachtsmann. Was die "User" wirklich von Bezahlmodellen halten, belegt ein Blick zum Spiegel. Dort kopiert sich der Informationssucher aus einer Bezahl-URL die Daten hinter dem letzten Slash in ein Spiegel-konformes Format wie dem in dieser putzigen eBay-Meldung und surft einfach weiter. Ob der einfache Vergleich von Zahlenreihen bei den Spiegel-Technikern schon als Hackerei gilt, muss offen bleiben. Ach ja, damit keine Missverständnisse entstehen: Auch diese Kolumne ist kostenbewehrt. Das Angebot von heise online wird von Printtiteln bezahlt.

*** Nun ist aber genug mit dem 20ten, sonst kommt am Ende gar die schwer kabbalistische 23 zu kurz. Heute vor 15 Jahren entdeckte der Astronomen-Assi Ian Shelton die hellste mit bloßen Augen zu sehende Supernova am Sternenhimmel. So eine Nova entsteht, wenn ein Stern abgeschaltet wird; sichtbar war das zuletzt im Jahre 1604. Das Gleiche passiert gerade in Berlin, wenn diese Kolumne online geht: Nein, nicht der Abgang Diepgens ist gemeint, der ist schon ein paar Tage her, und das letzte Aufglühen des ewigen Eberhard erinnerte zudem mehr an den verblassenden Glanz einer Glitzerkugel im Cafe Keese als an das Leuchten einer Supernova. Ich meine natürlich, dass die Blinkenlights abgeschaltet werden und fürderhin nur noch virtuell existieren. Tschüss! Mit Linux ist das wirklich passiert! Es hat wirklich Spaß gemacht, vorbeizuschauen. Und wer wirklich glaubt, dass Kylie Minogues Blinkenlights-Klau im Video zu "Can't get you out of my head" besser ist, dem ist wirklich nicht zu helfen.

Was wird.

Vergesst Boris und Lizzys Netz, begrabt die dummen Vorurteile über Männer, Frauen und männliche Präsidenten! Echte Jungs sind offline, richtige Mädels machen im Netz einen drauf. Und das Obermädel? Keuschheitsapostelin Britney Spears wirbt für 38 Millionen Dollar bei AOL America und haucht alsdann exklusiv "You've Got Mail". Auch in Deutschland soll sie dieses gepresste "Sie haben Post!" im Befehlston der Fahrkartenkontrolle ablösen. Von Steve Case, ebenfalls ein Muster der Keuschheit, ist in der Public Relations zu lesen, wie begeistert er über die "Mitarbeit der begnadeten Sängerin" ist. Begnadet die eine, belämmert der andere: Wenn Steve Case kurz vor der CeBIT nach Deutschland kommt, um zusammen mit Kanzler Schröder den "21th century Literacy Summit" der Bertelsmann-Stiftung und der AOL Foundation zu eröffnen, bringt er Madeleine Allbright mit, nicht Britney. Das macht insofern Sinn, weil die ehemalige Außenministerin der USA gewiss mehr Medienkompetenz besitzt als Britney, die so selten surft wie sie Sex hat. Eigens für Britney und ihre Fans hat AOL ein aufklärendes Keyword namens "Literacy" installiert, das die Jugendlichen schneller zu der Medienkompetenz bringt, die sich Erwachsene wünschen. Dass die Filterung des Internet auch zu den Tätigkeiten der beiden noblen Stiftungen gehört, lassen wir hier einfach mal außen vor. Zensur findet nicht statt. Und schon gar nicht auf AOL! (Hal Faber) / (jk)