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Was war. Was wird. Nach der Briefflut.

Schon wieder ein offener Brief. Hal Faber wiederholt sich ebenfalls – und blickt auf proletarische Wursttraditionen zurück. Germansplaining vom Feinsten.

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Ein offener Brief spart nicht nur Porto, speziell in Deutschland hat er auch eine gewisse Tradition, in der Dichter & Denker per Germansplaining aufzeigen, wer die "Guten" und wer die "Bösen" sind.

(Bild: Gajus/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Deutschland ist, ich wiederhole da einen alten Satz, das Land der Dichter und Denker. Sieht man einmal von dem Dichter Arno Schmidt ab, der energisch gegen diesen Satz protestierte. "Größenwahn, brusthoch, kommt angekrochen, Pfote in Pfote mit der Unwissenheit", lobte Schmidt den Reichtum der englischen Literatur und Philosophie. Vielleicht ist Deutschland heute das Land der Unterzeichner und Offenebriefeschreiber. Auf den bereits in der letzten Wochenschau erwähnten offenen Brief in der "Emma" folgte prompt der nächste offene Brief an Olaf Scholz, aber in gut! Gerade wir als Deutsche (Schweinderlphrase I) tun gut daran, mehr als ein Stück Versöhnung (Schweinderlphrase II) anzubieten: "Die besondere Verantwortung Deutschlands besteht, auch aufgrund seiner Geschichte, darin, anderen demokratischen Staaten und ihren Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, wenn die Barbarei danach trachtet, zu töten und zu zerstören." Bingo, rüber mit den Waffen. Auf den offenen Brief in gut folgte prompt ein weiterer offener Brief über die Ukraine, die auch unsre Sache ist, abgedruckt in der "Zeit". Nicht zu vergessen den offenen Brief von 28 deutschen Intellektuellen an Olaf Scholz mit der Forderung, doch künftig einen lustigen Hut zu tragen. Bei all dem Hin und Her der offenen Briefe konnte man sich schon vertuten und so hat es niemanden gewundert, dass offene Geständnisse erschienen wie das in der Süddeutschen Zeitung, wo die Schriftstellerin Katja Lange-Müller erklärt, "warum ich den offenen Brief der Emma an Olaf Scholz nicht hätte unterzeichnen sollen." Tja, es ist immer das Kleingedruckte, das Probleme macht.

Genosse Frank-Walter und Genosse Olaf können mit Stolz auf eine gewisse proletarische Wursttradition blicken.

*** Natürlich sind offene Briefe mehr als ein patenter Weg, das Porto einzusparen. Natürlich haben offene Briefe ihre eigene Geschichte, besonders in Deutschland. Das Volk der Dichter und Denker lebt ja mit seiner Geschichte und der Schande von 1914, als nach der Schändung von Belgien 93 Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler und keine einzige Frau das Manifest "An die Kulturwelt" unterschrieben, ein Stück allerfeinster Propaganda und Verlogenheit. Angesichts einer rasenden Bevölkerung habe man "schweren Herzens Vergeltung üben" müssen, hieß es im besten Germansplaining. Und den bösen Russen und diese Geschichte mit dem Völkerrecht gab es auch schon damals: "Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts missachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen." Schwamm drüber? Rassismus von vorvorgestern? Es gab ja noch den ungleich moderneren, an heute erinnernden Aufruf an die Europäer. Er kam auf ganze drei Unterschriften.

*** Zu denen, die 1914 den Krieg als nationale Aufgabe begrüßten und für die deutsche Arbeiterschaft einen Streikverzicht festschreiben wollten, gehörte der deutsche Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien. Auf dem Parteitag der SPD in Köln 1893 lieferte er sich einen heftigen Schlagabtausch mit dem SPD-Politiker Ignaz Auer, der ihm "tradeunionistische Bestrebungen" vorwarf und Legien als "gekränkte Leberwurst" bezeichnete. Diese Form der Beschimpfung gehört somit zu einer guten sozialdemokratischen Tradition, gleichauf mit Hanswurst, einem der Lieblings-Schimpfworte von Karl Marx. Sowohl Genosse Frank-Walter wie Genosse Olaf können auf diese proletarische Wursttradition mit Stolz blicken, wenn sie dereinst nach Kiew fahren und auf gute Freundschaft anstoßen. Das wusste schon Joachim Ringelnatz:

Die Liebe sei ewiger Durst.
Darauf müsste die Freundschaft bedacht sein.
Und, etwa wie Leberwurst,
Immer neu anders gemacht sein.

*** Sie könnten sich auch an einer Zeitung mit großen Buchstaben und kleingeistigen Schlagzeilen orientieren, die einmal eine Serie zur Frage veröffentlichte, was denn typisch deutsch ist. Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer vom ersten offenen Brief antwortete seinerzeit, dass Leberwurst und Vollkornbrot für sie das typisch Deutsche an Deutschland ist. Was nicht unbedingt typisch deutsch ist, ist der Mut, mit indiskreten Veröffentlichungen auf Missstände hinzuweisen. Das ist in dieser Woche wieder einmal in den USA passiert, als Politico eine Einschätzung des Richters Samuel Alito veröffentlichte, der die Rechte von Frauen als "nicht von amerikanischer Tradition gedeckt" abwertete. Es geht dabei um nichts Geringeres als um den Schwangerschaftsabbruch. Die Grundsatzentscheidung "Roe vs. Wade" aus dem Jahr 1973 soll rückgängig gemacht werden. Bemerkenswert ist, dass alle Versuche, der Whistleblowerin oder dem Whistleblower über die Analyse der Dokumente auf die Spur zu kommen, bislang gescheitert sind. Das Dokument, das Politico zugespielt wurde, scheint "wasserdicht" zu sein. Die Lektion von Reality Winner hat gewirkt. Auch unbekannt geblieben ist derjenige, der der Springer-Presse im Jahre 1970 Details über vertrauliche Verhandlungen zum deutsch-sowjetischen Gewaltverzicht übergaben. Die damalige Bundesregierung verzichtete auf die Strafverfolgung, die Ostpolitik ging weiter.

*** Und sonst so? Die erfolgreiche Digitalisierung von Deutschland hat es ins Museum geschafft: Wie sie passierte und weiterhin passiert, kann seit dieser Woche in Leipzig bestaunt werden, mit einem hübschen Gemälde zu den jungen Pionieren, die unser Land digitalisierten. Ja, die Kybernetik steckte den Osten an.

Pobedobesie klingt wie eine Krankheit, ist aber russisch und bedeutet "Siegeswahn". Der Hang, den Sieg über Hitlerdeutschland mit prächtigen Paraden zu feiern. Zu denen, denen es gruselt, zählt der russische Soziologe Greg Yudin: "Es kann sein, dass am 9. Mai der große patriotische Krieg offen erklärt wird, nach 77 Jahren würde man damit ansagen, jetzt den letzten Weltkrieg zu Ende bringen. Das würde eine große Mobilmachung bedeuten." Einerseits. Andererseits dürfte eine Mobilmachung auch ein Eingeständnis der Regierung sein, dass es mit der kleinen Spezialoperation nichts geworden ist. Vielleicht werden die Feierlichkeiten dazu genutzt, dass Putin seine Kriegsziele bekannt gibt. So feiert die Kreml-Astrologie fröhliche Urständ, um eine Formulierung zu würdigen, die die meisten Leser noch nie verstanden haben. Es gibt übrigens noch eine andere Astrologie, die sich mit einer deutschen Partei beschäftigt. Diese meint, dass der 8. Mai für viele Deutsche ein Tag der Niederlage und des Zusammenbruches ist, nicht etwa ein Tag der Befreiung. Das A steht hier für einen bekannten Teil des menschlichen Körpers.

Deutschland ist gut digitalisiert, daher reicht beim Zensus 2022 ein Online-Fragebogen, der "gute Zahlen" hergeben soll.

Schwer zu verstehen ist übrigens auch, was in diesem unserem Deutschland startet. Wissen wir wirklich nicht, wie viele Kitas es in Deutschland gibt? Ist es unklar, welche Bildungsabschlüsse die Menschen in Deutschland haben? Das jedenfalls meinen die Werber für den Zensus 2022, der am nächsten Sonntag starten wird. Dieser 15. Mai ist der Stichtag, auf den sich alle Fragen beziehen. 100.000 Interviewer schwärmen aus, um 10,3 Millionen Deutsche zu befragen. Zusätzlich müssen 23 Millionen Eigentümerinnen und Eigentümer über 40 Millionen Wohnungen Auskunft geben. Da Deutschland – siehe oben – erfolgreich digitalisiert ist, wird ein Online-Fragebogen die zentrale Rolle beim Zensus 2022 spielen. Sonst würde ein Papierberg produziert werden, der höher als der Mount Everest ist. "Online first" freut sich der Freiheitsfoo. Die Musterfragebögen sind bereits online. Vermieter sind verpflichtet, die Namen aller Bewohner einzutragen. So sollen "gute Zahlen" und belastbare Erkenntnisse gewonnen werden. Ob ihnen eine "gute Politik" folgt, steht auf einem ganz anderen Frageblatt.

(tiw)