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Er machte Musik tragbar: Zum Tode von Lou Ottens, Erfinder der Kompaktkassette

Markus Will

Lodewijk Frederik (Lou) Ottens, 1926 - 2021

(Bild: Jordi Huisman, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Lou Ottens revolutionierte mit der Kompaktkassette die Musikwelt und entwickelte später mit der CD deren Ablösung mit. Nun starb er im Alter von 94 Jahren.

Die Musikwelt trauert um einen Technikpionier, der die Musik tragbar machte: Der niederländische Ingenieur Lodewijk Frederik „Lou“ Ottens legte mit der Entwicklung der Kompaktkassette (auch Audio- oder Musikkassette) in den 1960er Jahren den Grundstein für die moderne Art des Musikkonsums. Erst durch die Kompaktkassette wurde Musik wirklich mobil und spätestens 1979 mit der Markteinführung von Sonys Walkman auch überall verfügbar.

Lou Ottens leitete nicht nur diese Revolution ein; er war auch an deren Nachfolge beteiligt: Er entwickelte die Compact Disc mit, die nicht nur die Kassette als meistgenutztes Medium ablöste, sondern auch die Musik ins digitale Zeitalter brachte. Wie jetzt bekannt wurde, starb Lou Ottens am 6. März 2021 im niederländischen Duizel.

Ottens, am 21. Juni 1926 im niederländischen Bellingwolde geboren, bewies bereits früh Pioniergeist und technisches Verständnis. Er baute sich während des zweiten Weltkriegs ein illegales Radio mit speziellem "Germanen-Filter", wie Ottens in im Zeit-Interview [1] beschrieb: Damit ließ sich Radio London trotz Störsender der deutschen Besatzer hören.

Der Musikmedienpionier Lou Ottens im Jahr 2007.

(Bild: CC BY-SA 4.0 [2], Jordi Huisman / Bearbeitung: Markus Will)

Ab 1960 entwickelte er bei Philips in Kooperation mit Grundig ein gemeinsames System, zumindest offiziell: Grundig wusste nichts davon, dass Philips heimlich einen eigenen Rekorder entwickelte. Philips setzte sie kurz vor der Markteinführung 1963 davon in Kenntnis, was zur Folge hatte, dass Grundig sofort jede Kooperation beendete.

Auf der IFA 1963 stellte Philips den EL 3300 als tragbaren Kassettenplayer vor, inklusive der Compact Cassette [3]als passenden Datenträger. Bereits auf der Messe fiel ihnen auf, dass besonders Besucher der japanischen Konkurrenz ein reges Interesse für die Marktneuheit zeigten.

Um möglichen Plagiaten und ähnlichen Systemen zuvorzukommen, beschloss Philips sich einen erfahrenen asiatischen Hersteller ins Boot zu holen, was mit Sony auch gelang. So hatten sie einen Mitspieler mit Marktmacht auf ihre Seite gezogen, der zudem auf dem japanischen Markt aktiv war.

Und die Strategie trug Früchte: Sie waren nicht nur die Ersten auf dem Markt, sondern das Compact Cassette-System setzte sich durch, auch zum Leidwesen von Grundig, die 1965 ein Konkurrenzsystem auf den Markt brachten, welches sie bereits 1967 wieder einstampften – aus Erfolglosigkeit. Mit der Zeit verbesserte sich durch neue Bandbeschichtungen auch die Klangqualität und der Siegeszug der Kassette nahm Fahrt auf.

Der von Ottens entwickelte Philips EL 3300 Kompaktkassettenspieler. Er wurde auf der IFA 1963 vorgestellt.

Ab 1972 entwickelte Ottens als Chef im NatLab (Natuurkundig Laboratorium) – das wissenschaftliche Forschungslaboratorium des Philips-Konzerns in Eindhoven – ein Nachfolgeprojekt mit dem Arbeitstitel ALP (Audio Long Play). Zunächst in einem Kleinprojekt als Ergänzung der Parallelentwicklung VLP (Video Long Play) gedacht, überzeugte Ottens Konzept die Philips-Konzernspitze, die im November 1977 grünes Licht für den Status als offizielle Produktentwicklung gab. Das System, welches später den Namen Compact Disc erhielt, wurde zudem als ernsthafter Nachfolger der Schallplatte positioniert, deren Prinzip seit knapp einem Jahrhundert (bis auf einige technische Anpassungen) weitgehend unverändert blieb.

Lou Ottens Gesetzmäßigkeiten des technischen Fortschritts

Ein neues Produkt wird in der Lage sein, einen bisher etablierten Standard zu verdrängen, wenn er mindestens zwei der folgenden fünf Bedingungen erfüllt:

  1. Miniaturisierung (z. B. Verkleinerung eines Produkts oder einer maßgeblichen Komponente)
  2. Wesentliche Verringerung des Energieverbrauchs (Unabhängigkeit vom Stromversorgungsnetz)
  3. Einfachere Bedienung (z. B. Vom komplizierten Computersystem zum intuitiven Touchbedinung.)
  4. Steigerung der Leistungsfähigkeit (z.B. verbesserte Tonqualität der CD)
  5. Günstigerer Preis (z. B. höhere Erschwinglichkeit durch technischen Fortschritt)

Eine Zusammenfassung, deren Punkte heutzutage sicherlich selbstverständlich klingen, die damals aber sehr modern und gewiss nicht die Regel waren.

Und wieder suchte Philips in Fernost nach einem Partner. Und während einer Vorführung wurde Lou Ottens bewusst, dass sein System wirklich das Zeug zum Erfolg hat: Konosuke Matsushita, der Seniorchef des gleichnamigen Konzerns war während der Demonstration der Klangqualität vornehm zurückhaltend. Als er jedoch die kleine Scheibe aus dem Laufwerk entnahm, stieß er ein überraschtes "Tsssssssss!" aus. Eine Musik dieser Qualität, gespeichert auf einer 12 Zentimeter großen Scheibe, verblüffte ihn dermaßen, dass er das nicht verbergen konnte. Ein Zeichen von Emotion, welches Ottens so noch nie von japanischen Geschäftsleuten vernahm.

Da Matsushita bereits an einem eigenen System forschte, kam wieder Sony zum Zug. Als das System 1979 zu etwa 80 Prozent fertig entwickelt war, holte man sich wie schon 1965 bei der Kompaktkassette die erfahrenen Japaner ins Boot. Von der Entscheidung erhoffte man sich Synergieeffekte und ein Gegengewicht zu den anderen japanischen Datenträgersystemen, die teilweise auch kurz vor der Marktreife standen.

Die Beteiligung von Sony an der Entwicklung der CD erwies sich als goldrichtig. Das Unternehmen brachte durch eigene Vorentwicklungen nicht nur wichtige Änderungen der Signalverarbeitung, der Fehlerkorrektur und des notwendigen Lasers ein, sondern auch ein gewichtiges Wort in der Standardisierung, sodass im August 1982 mit dem Sony CDP-101 der erste Serien-CD-Player auf den Markt kam. Die kompakte CD wurde mit den Jahren zum Weltstandard und drängte Schritt für Schritt die Schallplatte vom Markt.

Lou Ottens war zur Veröffentlichung der CD schon mit einem anderen Projekt beschäftigt – mit dem Einstieg Sonys wechselte er 1979 zur Philips Video Main Industry Group. Dort sollte er die Markteinführung von Video 2000 begleiten, die im Vergleich zu den Konkurrenzformaten VHS und betamax verzögert erfolgte.

Und erstmals hatte Ottens mit einem neuen System keinen Markterfolg: Video 2000 musste sich, obwohl den anderen Systemen überlegen, nach technischen Problemen und weiteren Schwierigkeiten dem VHS-System, dem Konkurrenten von JVC geschlagen geben und Philips wendete sich 1985 von Video 2000 ab. Bis zur Rente 1986 erarbeitete Ottens für den Konzern Vorschläge, die Logistik zu verbessern.

Eine Zeit lang existierten Compact Disc und Kassette in friedlicher Koexistenz – die CD für das heimische Rack und die Kassette für das Kinderzimmer oder für unterwegs –, bis die CD durch immer günstigere und mobilere Player und ab 1988 auch durch Brenner der Kassette allmählich das Wasser abgrub. Ab den 2000ern sorgten MP3-Player, iPod, Smartphones und ab den 2010ern zudem Spotify, smarte Lautsprecher und Co. für den Niedergang physischer Datenträger hin zu Stream und Download. Und auch für die IT waren beide Formate von herausragender Bedeutung: Kassetten waren als Datasetten der wichtigste Datenträger der 8-Bit-Systeme und CDs lösten Mitte der 1990er die Disketten ab und ermöglichten Speicherkapazitäten mit bis dahin nie gekannten Datenmengen.

Zwar haben die neuen digitalen Formate Kassettenrekorder und CD-Spieler vom Nachttisch verdrängt, aber viele erinnern sich gerne in ihre ersten Tapes mit selbst aufgenommener Musik oder an die Hörspiele, die vorm Schlafengehen noch für etwas Spannung sorgten. Alles das war möglich, weil Lou Ottens die Zeichen der Zeit erkannte und durch Entwicklung der Kassette und CD die Musik tragbar machte.

(mawi [4])


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[1] https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2013-07/audiokassette-entwickler-lou-ottens-philips/komplettansicht
[2] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0
[3] https://www.heise.de/hintergrund/Zahlen-bitte-Die-Compact-Cassette-60-Minuten-zur-Demokratisierung-der-Musik-4146463.html
[4] mailto:mawi@heise.de