Gender-Klischees in Kinderbüchern: KI-Tool erkennt Stereotype

Ein KI-Tool soll Gender-Klischees in Kinderbüchern aufdecken, ohne selbst Stereotype zu entwickeln. Ein Score soll über den Gender Bias aufklären.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 227 Kommentare lesen
Ein aufgeschlagenes Buch, aus dem Glitzer aufsteigt

In vielen älteren, aber auch in neueren Kindergeschichten sind die Figuren laut Forscherinnen von klassischen Rollen geprägt.

(Bild: tomertu/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Wie viel Klischee steckt in Kindergeschichten der Weltliteratur? Die Statistikerinnen Laura Vana-Gür (TU Wien) und Camilla Damian (VU Amsterdam) haben ein Modell entwickelt, das Kinderliteratur auf Geschlechterklischees scannt – mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI). Herausgekommen ist ein KI-Werkzeug, das die Geschichten auf genau diese Klischees untersucht. Ein Score soll Verleger und Verlegerinnen, pädagogische Fachkräfte und Eltern über das Ausmaß des Gender Bias aufklären und für das Thema sensibilisieren.

Das KI-Tool der beiden Wissenschaftlerinnen weise jedem Buch einen Gender-Score zwischen 0 und 1 zu, erläutern die Wissenschaftlerinnen in ihrer Vorgehensbeschreibung. Je höher der Score, desto mehr geschlechtsbezogene Verzerrungen habe die KI gefunden. "Ein Nachteil von aktuellen Algorithmen zur Sprachverarbeitung ist, dass sie Vorurteile mitübernehmen", erklärt Laura Vana-Gür. Den Forscherinnen war wichtig, dass sich ihr eigenes Tool nicht selbst in Gender-Bias verfängt. "Wir haben nicht mit Blackbox-Methoden auf Texte gezielt, sondern uns angesehen, was es in der Literatur bereits gibt, und versucht, das unter Beachtung der Kriterien zu automatisieren", sagt Vana-Gür. "Wir müssen am Schluss wissen, was wir gemessen haben. Die Ergebnisse sollen transparent und nachvollziehbar sein."

Dafür sichteten Vana-Gür und Damian Studien aus der Soziologie, Psychologie und Pädagogik, die sich allgemeiner damit befassten, welchen Einfluss Geschlechterklischees in der Entwicklung von Kindern haben. Auf dieser Grundlage analysierten sie händisch Kinderliteratur und sammelten Faktoren, die auf geschlechterspezifische Klischees hindeuten. Ihre Fragen lauteten unter anderem: Wie ausgeglichen ist die Zahl der männlichen und weiblichen Charaktere? Wie stark beeinflussen weibliche Charaktere die Geschichte? Definieren sich die männlichen Charaktere überwiegend als stark und sportlich und weibliche Charaktere dafür häufiger über ihr Aussehen?

Vana-Gür und Damian suchten in weiteren wissenschaftlichen Arbeiten nach passenden Werkzeugen für das sogenannte Natural Language Processing (NLP) – die natürliche Sprachverarbeitung –, um die verschiedenen Kategorien, die sie im Vorfeld herausgearbeitet hatten, aus den Texten herauszufiltern. Das sei kein einfaches Unterfangen: "Die Algorithmen, die diese Aufgabe ausführen sollen, waren auf Nachrichten trainiert und funktionieren nicht gut bei Büchern und noch weniger bei Kinderbüchern", schreiben sie.

Um ihren Zweck zu erfüllen, trainierte das Team sein Tool mit einer Sammlung frei zugänglicher Geschichten ohne Urheberrechtsschutz, darunter "Alice im Wunderland", "Cinderella", "Aladin und die Wunderlampe", "Rapunzel" und "Hänsel und Gretel". Außerdem speisten sie eine Definition der Hauptcharaktere und deren Geschlecht anhand der Wikipedia-Zusammenfassung ein. "Sind die Charaktere herausgearbeitet und ist deren Geschlecht bekannt, lassen sich Punkte wie das Verhältnis weiblicher und männlicher Charaktere leicht berechnen", erklären die Forscherinnen.

Für verschiedene Kategorien, etwa die Klischees bei Profession, Aussehen und Intelligenz wie für geschlechtsspezifische Begriffe wie Frau, Mann, Königin, König erstellten die Forscherinnen Wörterbücher. "Das erlaubt uns zu messen, in welcher Beziehung ein bestimmtes Wort zu einem geschlechtsspezifischen Wort steht – anhand des gemeinsamen Auftretens in einem bestimmten Kontext."

Auf Basis ihrer Ergebnisse konnten die Forscherinnen ein Modell erstellen, das Verzerrungseffekte aufzeigte, die aus bestimmten Wörtern in einem bestimmten Kontext entstanden sind. Sie ordneten zu, welche Gewichtung sie ihren einzelnen Faktoren für den abschließenden Score geben sollten.

"Geschlechterstereotype bilden sich nachweislich schon früh in der Kindheit heraus. Das hat Auswirkungen auf die emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die sich etwa in schulischer Leistung und Berufswahl manifestieren", heißt es in der Mitteilung des österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, der die Arbeit der Wissenschaftlerinnen als "1000-Ideen-Projekt" gefördert hat.

Den Wissenschaftlerinnen gehe es in ihrer Forschung keinesfalls darum, klassische Werke zu verteufeln. "Das Ziel ist nicht, Bücher zu canceln, sondern für mehr Bewusstsein zu sorgen", betont Laura Vana-Gür gegenüber der österreichischen Nachrichtenagentur APA Science. Die Wissenschaftlerinnen legen vor allem großen Wert auf die Nachvollziehbarkeit ihrer Ergebnisse. "Uns ist es wichtig, eine interpretierbare Gesamtbewertung zu erhalten, um etwa Verleger und Verlegerinnen, Pädagogen und Pädagoginnen oder auch Eltern fundierte Entscheidungen zu ermöglichen."

Auf neuere Kindergeschichten hat das Team den Prototypen noch nicht angesetzt – unter anderem aus Gründen des Urheberrechts. Es gebe aber Studien, die darauf hinweisen, dass die Darstellungen teils nach wie vor problematisch sein. "Das Thema ist demnach, auch wenn es vielleicht leichte Verbesserungen bei der Darstellung der Charaktere gegeben hat, nicht vom Tisch", sagt Vana-Gür.

(are)