Weltraumteleskop Gaia: Masse der Milchstraße drastisch kleiner als angenommen

Gaia vermisst die Milchstraße mit bislang unerreichter Präzision. Nun legen die Daten nahe, dass sich die Sterne hier anders verhalten als in anderen Galaxien.

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Milchstraße und Visualisierung der Sonde

Gaia vor der Milchstraße

(Bild: ESA/ATG medialab; background: ESO/S. Brunier)

Lesezeit: 5 Min.

Die Masse der Milchstraße ist womöglich um mehr als eine Billion Sonnenmassen geringer als bislang angenommen. Eine Erklärung wäre, dass unsere Heimatgalaxie drastisch weniger Dunkle Materie enthält, als gedacht. Das ist das Ergebnis einer vor wenigen Tagen vorgestellten Analyse des vor einem Jahr veröffentlichten dritten Datensatzes des Weltraumteleskops Gaia. Ferner wurde nun öffentlich gemacht, dass das revolutionäre Instrument in dem Kugelsternhaufen Omega Centauri eine halbe Million neuer Sterne entdeckt, die Umlaufbahnen von 150.000 Asteroiden im Sonnensystem vermessen, die größte Datenbank veränderlicher Roter Riesensterne erstellt und fast 400 mögliche Gravitationslinsen gefunden hat.

Der neue und deutlich kleinere Wert zur Gesamtmasse der Milchstraße wurde von einem internationalen Forschungsteam unter Leitung von Astronomen des Observatoriums Paris ermittelt. Ihm liegen die bislang präzisesten Messungen zur Bewegung von fast zwei Milliarden Sternen zugrunde, die vor einem Jahr veröffentlicht wurden. Damit sei die bislang genaueste Rotationskurve für eine Spiralgalaxie erstellt worden, und zwar die für unsere eigene. Anders als jene für andere Galaxien sei die nicht flach, die Rotationsgeschwindigkeit von Sternen nimmt demnach mit zunehmendem Abstand zum Zentrum der Milchstraße ab. Damit folgen sie dem Dritten Keplerschen Gesetz, verhalten sich aber ganz anders als Sterne in anderen Galaxien, wo diese Abnahme nicht beobachtet wurde.

Wie das Observatorium Paris erläutert, gehört die Entdeckung, dass die Rotationsgeschwindigkeit in Spiralgalaxien nach außen hin nicht abnimmt, aber zu den wichtigsten der modernen Astronomie. Sie sei eine der wichtigsten Grundlagen für die Theorie der sogenannten Dunklen Materie, die für die Beschleunigung verantwortlich sein soll. Bislang sei man davon ausgegangen, dass die Milchstraße sich in dieser Hinsicht normal verhält, Messungen dazu wurden aber gleichzeitig dadurch erschwert, dass wir uns darin befinden. Die abnehmende Rotationsgeschwindigkeit von Sternen in der Milchstraße wurde zuletzt aber von mehreren Teams ermittelt, schreibt das Wissenschaftsmagazin Scientific American.

Wenn die Gesamtmasse der Milchstraße nun tatsächlich nur rund 200 Milliarden Sonnenmassen beträgt, wie von dem Team ermittelt, könnten lediglich zwei Drittel davon auf Dunkle Materie entfallen, erklärt das Observatorium Paris. Denn es werde allgemein angenommen, dass die herkömmliche Materie auf 60 Milliarden Sonnenmassen kommt. Sollte sich das bestätigen, wäre das eine "Revolution für die Kosmologie", denn bislang gehe man davon aus, dass es mindestens sechsmal so viel Dunkle Materie wie Materie geben muss. Der Unterschied zu anderen Galaxien könnte sich aber auch aus der vergleichsweise ruhigen Geschichte der Milchstraße oder systematischen Unterschieden bei der Ermittlung der Rotationskurven in der Milchstraße und fernen Galaxien ergeben, meint das Team.

Während die besonders präzisen Gaia-Daten hier also ein grundsätzlich neues Verständnis unserer Heimatgalaxie einläuten könnten, ermöglichen sie in anderen Bereichen tiefere Einblicke. So hat das Weltraumteleskop im Sternhaufen Omega Centauri eine halbe Million bislang nicht einzeln nachweisbarer Sterne entdeckt. Damit habe das Instrument die Erwartungen noch einmal übertroffen, erklärt das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam. Das gelte auch für die Gravitationslinsen, die Gaia immer häufiger finde, ergänzt die ESA. Dafür sei das Gerät gar nicht ausgelegt, aber indem es nachweise, dass es sich bei so manchen Lichtpunkten nicht um Sterne, sondern mehrfach abgebildete, ferne Galaxienkerne handelt, habe es schon 381 Kandidaten für solche Gravitationslinsen entdeckt.

Bisherige Sternenkarte von Omega Centauri (links) und die neue dank Gaia

(Bild: ESA/Gaia/DPAC. Acknowledgement: Stefan Jordan, Katja Weingrill, Alexey Mints, Tineke Roegiers. Visualisierung: Gaia Sky, Toni Sagristà)

Weiterhin hat Gaia unsere Bahndaten für mehr als 150.000 Asteroiden im Sonnensystem teilweise um das 20-fache präziser gemacht und unser Wissen von dieser Population damit deutlich vergrößert, schreibt die ESA. Künftig sollen Kometen und Satelliten von Planeten hinzukommen, während die Zahl der Asteroiden noch einmal verdoppelt werden soll. Diese und andere Analysen werden in mehreren Forschungsarbeiten vorgestellt, die die ESA verlinkt. Die Studie zur Rotationsgeschwindigkeit der Sterne am Rand der Milchstraße wurde Ende September im Fachmagazin Astronomy & Astrophysics, veröffentlicht.

Das Weltraumteleskop Gaia war 2013 gestartet worden und lichtet mit einer Gigapixelkamera kontinuierlich den Sternenhimmel ab. Mittels der Parallaxenmessung kann es auf seinem Weg um die Sonne die Position unzähliger Sterne sowie Galaxien und im Laufe der Zeit auch deren relative Bewegung genau bestimmen. Mit der Zeit werden die Daten nicht nur präziser, es können auch immer mehr Objekte in den Katalog aufgenommen werden. Die 2016 veröffentlichte erste Sammlung enthielt Messdaten zu etwa einer Milliarde Sterne, 2018 waren es schon fast 1,7 Milliarden, 2020 noch einmal über 100 Millionen mehr. Inzwischen hat es bei der Zahl der Veröffentlichungen sogar Hubble überholt. Der jüngste Datensatz war, mit über 10 Terabyte, der größte jemals veröffentlichte der Astronomiegeschichte.

Update

Ermittelt wurde eine Gesamtmasse von 200 Milliarden Sonnenmassen. Die falsche Angabe wurde berichtigt.

(mho)