Fotografische Fundstücke

Found Photography bezeichnet Fotografien, die auf Flohmärkten oder in Nachlässen entdeckt werden. Als spannende Zeitzeugnisse sind diese Bilder begehrt.

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Eine Momentaufnahme aus den 1940er-Jahren, deren Urheber, Aufnahmeort und Kontext im Laufe der Zeit verloren gegangen und heute völlig unbekannt sind., Alle Bilder: Nigel Maister

Eine Momentaufnahme aus den 1940er-Jahren, deren Urheber, Aufnahmeort und Kontext im Laufe der Zeit verloren gegangen und heute völlig unbekannt sind.

(Bild: Nigel Maister)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Nigel Maister
Inhaltsverzeichnis

Gute Bilder bergen Geheimnisse: Sie fordern uns auf, zu hinterfragen, was wir sehen und warum (und wie) der Fotograf sie geschaffen hat. Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, indem sie eine Situation oder eine Kombination von Elementen formeller oder informeller Art zeigen. Bilder können sofort verstanden werden und entziehen sich gleichzeitig einer schnellen Einordnung. Vor allem aber regen sie unsere Vorstellungskraft an und inspirieren uns. Das linke Bild ist ein solches Bild. Es ist alltäglich (ein Bild von Füßen und einem Frauenkopf), wiedererkennbar (wahrscheinlich wurde es auf einem Boot aufgenommen) und doch völlig fremd: Der negative Raum zwischen dem oberen Fuß, der eine Kurve bildet, und dem gebeugten Kopf der Frau; die Tatsache, dass sie eine Badekappe trägt, aber keinen Badeanzug; der Blick auf das Wasser und das Ufer, eingerahmt von Beinen, Füßen und dem Dollbord; die Bewegung unserer Augen, die von der Kurve der Beine und Füße nach oben zum oberen Bildrand und dann wieder nach unten geführt werden, um dem Blick der Frau zu folgen; der Kontrast zwischen der Weichheit des Vordergrundes und der Schärfe der fast silhouettenhaften Figur im Hintergrund; sogar der dekorative Rand des Druckes selbst – all das zwingt uns, genau hinzusehen. Das Bild wirkt unbeschwert und entspannt, die Anordnung der Füße des Mannes – ein Fuß balanciert prekär auf der Zehenspitze des anderen, aber auch nachdenklich und vielleicht sogar traurig. Ich zögere nicht, dieses Bild ein Kunstwerk zu nennen.

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Doch der Schöpfer dieses Bildes war kein Künstler – zumindest kein Künstler im klassischen Sinne. Es ist eine Momentaufnahme aus den 1940er-Jahren. Die Identität des Urhebers, der Aufnahmeort und das Motiv sind im Laufe der Zeit verloren gegangen. Selbst sein Zweck bleibt im Dunkeln: Man könnte vermuten, dass es vielleicht während eines Sommerurlaubs aufgenommen wurde, um einen Moment der Entspannung während einer Bootsfahrt einzufangen. Für uns als Betrachter funktioniert das Bild heute weniger als dokumentarische Aufzeichnung dieses Urlaubs, sondern vielmehr als bemerkenswerter ästhetischer Moment, der durch das unbeabsichtigte Zusammentreffen von Licht, Form und Gefühl entsteht. Dieses Foto muss irgendwann aufgegeben, als wertlos betrachtet und weggeworfen worden sein, bis es von einem Fotohändler gefunden wurde, als "Sammlerstück" wieder in die Welt kam und von mir, dem Sammler, der es "Kunst" nannte, erworben wurde. Dieser Weg eines preiswerten, industriell hergestellten Bildes (solche Schnappschüsse wurden in der Regel maschinell bearbeitet), von einem privaten Erinnerungsstück zu einem öffentlich deklarierten Kunstwerk, zeigt den Reiz und die Anziehungskraft des Sammelns von Fotografie, die oft als "Found Photography" ("Gefundene Fotografie") oder auch als "Vernacular Photography" ("Alltags- oder alltägliche Fotografie") bezeichnet wird.

Was genau unter "alltäglicher Fotografie" zu verstehen ist, ist umstritten. Häufig wird der Begriff im akademischen Zusammenhang als Ersatz für "Schnappschüsse" verwendet und bezeichnet ein breites Spektrum von Fotografien: anonyme, nicht-professionelle Arbeiten (obwohl der Begriff professionelle Fotografen nicht per se ausschließt), wissenschaftliche, dokumentarische und so weiter – im Grunde alles, was nicht als künstlerische Fotografie gilt. Betrachtet man die Fotografie durch diese inhaltliche Brille, so kann die überwiegende Mehrheit aller Fotografien treffend als "alltäglich" bezeichnet werden.

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