MIT Technology Review 8/2022
S. 3
Editorial
, Foto: Ricardo Wiesinger
Foto: Ricardo Wiesinger

Liebe Leserinnen und Leser,

sind Sie auf der Arbeit auch von mehr Männern als Frauen umgeben? Die Wissenschaft und die Techbranche sind noch immer stark männerdominiert. Im akademischen Bereich zum Beispiel werden 72 Prozent Männer auf eine Professur (W3) berufen und nur 27 Prozent Frauen. Die Gründe dafür sind vielfältig und beginnen in frühen Jahren – vor allem in den technischen Fächern und Berufen.

Studien zeigen, dass bereits in der Schule Lehrkräfte für Informatik unbewusst Jungs stärker fördern als Mädchen. Und selbst wenn die Mädchen sich durchsetzen und dabeibleiben, wird es im Studium nicht einfacher: Nur 18 Prozent der Studierenden in der Informatik sind weiblich. Frauen finden in entsprechenden Studiengängen oftmals ein männliches Sozialverhalten vor, das sie ausgrenzt und ihnen vermittelt, nicht dazuzugehören.

Wir haben mit vielen Frauen aus der Forschung gesprochen (Seite 14). Sie berichten davon, wie schwer es ist, solche Widerstände zu überwinden. Diese Gläserne Decke lässt zwar Einblicke zu, was in höheren Hierarchie-Ebenen möglich wäre. Sie ist für viele Frauen aber undurchdringlich.

Es geht also nicht um Begabung oder Talent, sondern um soziale Machtstrukturen. Sie sind so zementiert, dass es noch immer schwerfällt, sie aufzubrechen. Das zeigt auch die Geschichte des Silicon Valley (Seite 28), die auf Netzwerken weißer Männer beruht und bis heute wenig divers ist. Die Produkte und Dienstleistungen aus Kalifornien, die heute unseren Alltag prägen, haben in der Vergangenheit viele Kollateralschäden verursacht.

Wäre eine andere Entwicklung denkbar gewesen? Claire Evans bejaht das (Seite 22). Sie hat ein Buch über die Geschichte des Computings aus feministischer Sicht geschrieben und sagt: „Es gab in der Geschichte viele Ideen und Projekte von Frauen, die unsere Welt radikal verändert hätten.“

Der patriarchische Arm unserer Gesellschaft reicht dabei tief bis in die fachliche Welt. Erst jetzt hinterfragt die Wissenschaft, wie differenziert und vielfältig das biologische Geschlecht zu betrachten ist. In der Medizin etwa reift die Erkenntnis, dass es große Unterschiede gibt, wie Männer, Frauen und diverse Geschlechter auf verschiedene Impfstoffe und Medikamente reagieren (Seite 36).

Diese Vielfalt stärker in die starren Strukturen der Wissenschaft und Techbranche einzubinden, muss das Ziel sein. Denn wir brauchen eine diversere Sicht darauf, wie wir die Welt gestalten wollen. Nur so kann sie für uns alle besser werden.

Ihr

Luca Caracciolo

@papierjunge

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