Atommüll: Einblicke in das finnische Endlager Onkalo

Seite 4: Tunnel in die Dunkelheit

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Der Eingang zum Versteck ist eine in den Gneis gehauene Rampe. Schon bevölkern Flechten den rundum freigelegten Fels: Xanthoria-Küsse mit orangem Lippenstift. Bei einem Unfall kann die Rampe per Rolltor verschlossen werden. Jetzt ist das Tor offen – und ich betrete einen Tunnel, der sich hinab in die Dunkelheit windet.

Unnatürlich glatte Wände aus Spritzbeton. Kleiner werdende grüne Seitenlichter. Schilder zeigen an, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit am Ende der Welt 20 km/h beträgt. ­Anschlusskabel hängen zwischen Halterungen durch. Wasser plätschert durch eine Rinne. Die Luft kommt kalt von unten herauf und wirbelt Steinstaub hoch.

Die Erde ist unser Tabernakel, das Behältnis für alles, was vergeht.

Von der Schwelle führt der Tunnel in einer gleichmäßig gebogenen, fünf Kilometer langen Spirale nach unten und wird erst an den Grabkammern eben. Abstrakt betrachtet, ohne den ummantelnden Fels, ist das Versteck von eleganter Schlichtheit. Drei Hauptschächte gehen senkrecht in die Tiefe: Lufteinlass, Luftauslass und ein Aufzug. Um die Schächte herum windet sich die Transportrampe, die in fast 450 Metern Tiefe zu einem großen Hohlraum führt. Von diesem zentralen Raum gehen ­diverse Lagerstollen ab, in deren Boden Vertiefungen eingelassen sind für die Behälter mit den Brennstäben. Wenn Onkalo so weit ist, dass die erste Ladung deponiert werden kann, befinden sich hier über zweihundert Stollen, die 3250 Kanister mit Brennstäben aufnehmen können. Ihre Form erinnert mich an die Kammern und Tunnelgänge, die Borkenkäfer in die Baumrinde bohren, um ihre Eier abzulegen und die Larven großzuziehen, ehe sie den Baum, der sie nährte, töten.

Onkalo wird mit dem Wunsch errichtet, dass sein Inhalt niemals geborgen werde. Dieser Ort konfrontiert uns mit Zeiträumen, die jedes gewohnte Maß sprengen. Die radiologische Zeit ist nicht gleichbedeutend mit Unendlichkeit, aber sie umfasst Zeitspannen, in deren Angesicht unsere herkömmlichen Vorstellungen und Bezeichnungen kollabieren. Ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert schrumpft zur Bedeutungslosigkeit, die Sprache setzt aus, wenn wir das Steingrab von Onkalo und seinen Inhalt in geologischen Zeiträumen betrachten. Die Halbwertszeit von Uran-235 beträgt 4,46 Milliarden Jahre: eine Dimension, die uns Menschen aus der Welt hebelt und den Einzelnen zum belanglosen Staubkorn macht.

Aber wenn wir in radiologischen Zeitspannen denken, müssen wir notwendigerweise umdenken, nicht fragen, was wir mit der Zukunft machen, sondern was die Zukunft mit uns machen wird. Welches Erbe hinterlassen wir den nach uns kommenden Generationen, aber auch den nach uns kommenden Zeitaltern und Spezies? Sind wir gute Vorfahren?

Der Tunnel windet sich hinab. Die Luft summt seltsam.

Unsichtbare Maschinen führen obskure Arbeiten aus. In dreihundert Metern Tiefe betreten wir eine Reihe großer Seitenkammern. In der ersten steht ein unbemannter gelber Bohrwagen, dessen acht Halogenaugen mich anfunkeln und von dessen Bohrarmen noch Wasser tropft. Der Schlüssel steckt. Im Spritzbetondach der Kammer sitzen silberne und rote Befestigungsplatten. Neue Bohrlöcher tränen auf uns herab. Das Halogen wirft harte Schatten. Ich denke an die Eidechsenmaschinen im Stollenlabyrinth von Boulby, die darauf warten, in ihr Leichentuch aus Halit gehüllt zu werden.

Die blanken Wände der Kammer sind mit Höhlenkunst ­bemalt: Markierungen in blauer, roter, apfelgrüner und atomgelber Sprühfarbe. Der Fels ist mit Zahlen, Piktogrammen, ­Linien, Pfeilen und anderen Codes verziert, die ich nicht entziffern kann und deren Bedeutung mir so fremd ist wie die ­bronzezeitlichen tanzenden Figuren in Refsvika.