Neurowissenschaft: Gedankenlesen macht Fortschritte

Seite 2: Erkennen, dass man abschweift

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Um den Beginn des Abschweifens der Gedanken genauer zu untersuchen, musste Christoff sich deshalb an erfahrene Meditierende wenden, die es in dem Moment erkennen konnten, in dem es auftrat. Nur mit deren Hilfe konnte sie feststellen, dass das DMN in den Momenten kurz vor dem Abdriften besonders aktiv ist.

Insgesamt ergibt sich aus diesen Ergebnissen ein recht kohärentes Bild. Wenn man sich fragt, was es zum Abendessen geben soll, oder wenn man sich wegen einer Meinungsverschiedenheit mit einem Freund Sorgen macht, schaltet sich das DMN ein. In Phasen intensiver, selbstloser Konzentration aber wird das Netzwerk deaktiviert oder desynchronisiert.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Wissenschaftler anhand der Hirnaktivität feststellen können, ob man sich seiner selbst bewusst ist oder ob der Kopf eines Probanden in den Wolken schwebt. In einer Studie waren die Forscher in der Lage, bestimmte innere Zustände zu dekodieren, beispielsweise die Konzentration auf den Atem, die Konzentration auf Geräusche und das Umherschweifen der Gedanken. Das gelang ihnen zwar mit einer höheren Rate als zufällig zu erwarten wäre, aber sie lagen trotzdem mehr als die Hälfte der Zeit falsch. Deshalb zeichnen diese groben Beschreibungen der inneren Zustände von Menschen kaum ein vollständiges Bild davon, wie es ist, sie selbst zu sein.

Dennoch glaubt Lazar, dass die Gehirndaten helfen könnten, eigene Erfahrungen besser zu verstehen. Die Deaktivierung des Standardmodus-Netzwerks und insbesondere des hinteren cingulären Kortex wird mit Zuständen "müheloser Konzentration" in Verbindung gebracht, die Meditationsanfänger oft nicht erreichen können. Daher testen einige Forscher, ob das Betrachten von Live-Daten ihres eigenen Gehirns in einem Prozess, der Neurofeedback genannt wird, Menschen beim Erlernen der Meditation helfen könnte. "Wenn man den richtigen Zustand wenigstens ein- oder zweimal gespürt hat, dann weiß man: Okay, das ist es, was ich anstrebe, das ist es, was ich erreichen will", sagt Lazar. "Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt."

Für Neurowissenschaftler, die sich für subjektives Erleben interessieren, sind es gerade interessante Zeiten: Die Forschung zu Psychedelika und Meditation ist in den letzten zehn Jahren geradezu explodiert. Zudem werden nichtinvasive Neuroimaging-Technologien immer leistungsfähiger und präziser. Aber die Daten bedeuten wenig, wenn man nicht genau weiß, was die Versuchsperson erlebt, und die einzige Möglichkeit, diese Informationen zu erhalten, ist zu fragen. "Wir können einfach nicht auf Berichte verzichten", sagt Millière.

Ein Ansatz dafür sind psychologische Fragebögen. Sie sind auf bequeme Weise quantitativ und einfach zu handhaben, aber sie verlangen von den Probanden, dass sie ihre transzendenten Erfahrungen in vorgegebene und möglicherweise unpassende Kästchen einordnen. Zu den Alternativen gehört die Phänomenologie, jener Zweig der Philosophie, der versucht, die Erfahrung der ersten Person in rigorosen, exakten Details zu analysieren. Sie hatte über ein Jahrhundert Zeit, ihre Techniken zur Gewinnung solcher Berichte zu verfeinern, und damit dreimal so lange, wie es das fMRI-Gerät gibt. Millière hat für seine Kollegen aus den Neurowissenschaften Schulungen in "Mikrophänomenologie" organisiert. Das ist eine philosophische Interviewmethode, mit der man einer Versuchsperson so viele Erfahrungsinformationen wie möglich zu entlocken versucht, ohne die Antworten in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Lange Textbeschreibungen, wie sie bei einem mikrophänomenologischen Interview entstehen, sind jedoch viel schwieriger zu analysieren als Fragebögen. Forscher können jede Antwort manuell nach den Attributen bewerten, die sie interessieren, aber das kann ein unordentlicher und arbeitsintensiver Prozess sein. Er beraubt Interviews auch eines Großteils ihrer Nuancen, die sie so wertvoll machen.

Algorithmen zur Verarbeitung von natürlicher Sprache, wie sie in ChatGPT zum Einsatz kommen, bieten möglicherweise eine effizientere und konsistentere Alternative, da sie große Textmengen schnell und automatisch auf bestimmte Merkmale hin analysieren können. Millière hat bereits mit Algorithmen zur Verarbeitung natürlicher Sprache experimentiert und sie Berichte über psychedelische Experimente aus Online-Datenbanken wie "Erowid" untersuchen lassen. Dabei hat er festgestellt, dass die daraus resultierenden Charakterisierungen gut mit Daten aus Fragebögen übereinstimmen.

Selbst mit Hilfe der Mikrophänomenologie ist es jedoch eine gewaltige Aufgabe, das, was in Köpfen vorgeht, in ein ordentliches verbales Paket zu verpacken. Anstatt die Versuchspersonen zu bitten, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen, versuchen einige Wissenschaftler, diese Erfahrungen mit Hilfe von Technologien zu reproduzieren. Auf diese Weise müssen die Versuchspersonen nur noch bestätigen oder verneinen, dass die Reproduktionen mit dem übereinstimmen, was in ihrem Kopf vorgeht.

In einer noch nicht begutachteten Studie hat ein Team von der University of Sussex im Vereinigten Königreich versucht, eine solche Frage zu beantworten, indem es visuelle Halluzinationen mit tiefen neuronalen Netzen simulierte. Sogenannte Convolutional Neural Networks (CNN), die ursprünglich vom menschlichen Sehsystem inspiriert wurden, wandeln normalerweise ein Bild in nützliche Informationen um, zum Beispiel in eine Beschreibung des Bildinhalts. Wenn man das Netzwerk jedoch rückwärts laufen lässt, kann man es dazu bringen, Bilder zu erzeugen: phantasmagorische Traumlandschaften, die Hinweise auf die innere Funktionsweise des Netzwerks liefern.

Google machte die Idee 2015 in Form eines Programms namens DeepDream bekannt. Wie Menschen auf der ganzen Welt begann auch das Team in Sussex aus Spaß mit dem System zu spielen, sagt der Neurowissenschaftler Anil Seth, einer der Koautoren der Studie. Doch schon bald erkannten sie, dass sie den Ansatz nutzen könnten, um verschiedene ungewöhnliche visuelle Erfahrungen zu reproduzieren.

Auf der Grundlage mündlicher Berichte von Menschen mit Halluzinationen verursachenden Krankheiten wie Sehkraftverlust und Parkinson sowie von Menschen, die kürzlich Psychedelika eingenommen hatten, entwickelte das Team ein umfangreiches Menü aus simulierten Halluzinationen. Auf diese Weise konnten sie eine umfassende Beschreibung dessen erhalten, was in den Köpfen der Probanden vor sich ging, indem sie ihnen eine einfache Frage stellten: Welches dieser Bilder passt am besten zu Ihrer visuellen Erfahrung? Die Simulationen waren nicht perfekt, obwohl viele der Probanden eine ungefähre Übereinstimmung finden konnten.

Anders als bei der Dekodierungsforschung wurden bei dieser Studie keine Gehirnscans durchgeführt. Trotzdem könnte sie Seth zufolge etwas Wertvolles darüber aussagen, wie Halluzinationen im Gehirn funktionieren. Einige tiefe neuronale Netze leisten beachtliche Arbeit bei der Modellierung der inneren Mechanismen der visuellen Regionen des Gehirns, und so könnten die Anpassungen, die Seth und seine Kollegen am Netzwerk vorgenommen haben, den zugrunde liegenden biologischen "Anpassungen" ähneln, die die Probanden halluzinieren ließen. "In dem Maße, in dem wir das tun können", sagt Seth, "haben wir eine Hypothese auf Computerebene darüber, was in den Gehirnen dieser Menschen passiert, die diesen unterschiedlichen Erfahrungen zugrunde liegt."

Dieser Forschungszweig steckt noch in den Kinderschuhen, aber er deutet darauf hin, dass die Neurowissenschaften eines Tages mehr leisten könnten, als uns nur zu sagen, was jemand anderes erlebt. Durch den Einsatz von tiefen neuronalen Netzen konnte das Team die Halluzinationen seiner Versuchspersonen in die Welt hinaus tragen, so dass jeder an ihnen teilhaben konnte.

Die Externalisierung anderer Arten von Erfahrungen wäre wahrscheinlich viel schwieriger. Tiefe neuronale Netze sind gut darin, Sinne wie Sehen und Hören zu imitieren, aber sie können noch keine Emotionen oder geistiges Abschweifen modellieren. Wenn die Technologien zur Modellierung von Gehirnen weiter fortschreiten, könnten sie jedoch eine radikale Möglichkeit mit sich bringen: Menschen könnten nicht nur wissen, was im Kopf eines anderen vor sich geht, sondern es auch miterleben.

(jle)