Missing Link: Die verzweifelte Suche nach der neuen Physik

Seite 2: Die neue W-Bosonen-Anomalie

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Seit vergangenem Monat gibt es eine neue Anomalie in der Teilchenphysik, diesmal in der Messung der Masse des W-Bosons. Das neue Ergebnis kommt nicht von einem neuen Experiment; es ist eine neue Analyse von Daten aus einem Experiment, das schon vor mehr als 10 Jahren eingestellt wurde: Der Teilchenbeschleuniger "Tevatron" beim Fermilab in den Vereinigten Staaten.

Der Tevatron erreichte Kollisionsenergien von etwa einem Tera-Elektronenvolt, kurz TeV, daher der Name. Er war im Grunde ähnlich zum LHC, kollidierte aber Protonen und Antiprotonen, wohingegen der LHC Protonen mit Protonen kollidiert. Der Tevatron war auch ein Ringbeschleuniger, jedoch "nur" mit einem Umfang von etwa 6 Kilometern. Mit etwa 27 Kilometern Umfang und etwas stärkeren Magneten erreicht der LHC Gesamtenergien, die mehr als zehnmal so hoch sind, wie die des Tevatron.

Trotzdem war die Energie am Tevatron hoch genug, um fast alle der Teilchen des Standardmodells zu messen – bis auf das Higgs, was erst am LHC bestätigt wurde. Die neu analysierten Tevatron-Daten wurden von 2002 bis 2011 in von der Kollaboration des CDF-Experiments gesammelt. Während dieser Zeit wurden dort etwa 4 Millionen W-Bosonen gemessen.

Das W-Boson ist eines der Teilchen im Standardmodell. Es gehört zu denen, die die schwache Kernkraft vermitteln. Es ähnelt also dem Photon, hat aber eine Masse und ist extrem kurzlebig. Es taucht daher eigentlich nur in Teilchenbeschleunigern auf (oder, sehr selten, in kosmischer Strahlung).

Der Wert der Masse des W-Bosons hängt mit anderen Parametern im Standardmodell zusammen, die ebenfalls schon gemessen wurden. Es ist also kein unabhängiger Parameter, sondern muss zu den anderen passen. (Genau gesagt gibt es zwei W-Bosonen mit unterschiedlicher elektrischer Ladung, aber da deren Masse dieselbe sein sollte, ist das hier nicht so relevant.)

Die Masse des W-Bosons wurde bereits einige Male zuvor gemessen, und liegt diesen Messungen zufolge bei etwa 80 GeV. Zum Vergleich: Die Masse des Protons ist etwa ein GeV. Wenn ein W-Boson also in einer Protonenkollision erzeugt wird, kommt die meiste Masse aus der kinetischen Energie der Protonen.

Die früheren Messungen der W-Boson Masse waren mit dem Standardmodell kompatibel. Die Autoren der neuen Studie behaupten aber nun, eine Abweichung vom Standardmodell mit 7 Sigma gefunden zu haben, weit über der Entdeckungsschwelle von 5 Sigma.

Der Mittelwert der neuen Messung ist mit 80,433 GeV um etwa 0,076 GeV höher als die Erwartung vom Standardmodell. Tatsächlich ist das aber ähnlich zu den Ergebnissen von einigen früheren Datenanalysen. Das Erstaunliche an der neuen Analyse ist auch nicht der Mittelwert, sondern der kleine Fehlerbalken von lediglich 0,009 GeV. Dass der Fehlerbalken so klein ist, ist der Grund, warum dieses Ergebnis eine so hohe statistische Signifikanz hat, was für die früheren Messungen nicht der Fall war.

Wie haben die Forscher es geschafft, den Fehlerbalken so klein zu bekommen? Nun, zum einen haben sie eine Menge Daten. Aber sie haben auch viele Kalibrierungsabgleiche mit anderen Messungen durchgeführt, was im Grunde bedeutet, dass sie sehr genau wissen, wie man die physikalischen Parameter aus den Rohdaten extrahiert. Oder zumindest glauben sie, dass sie das wissen.

Ist das möglich? Durchaus. Ist es richtig? Es könnte richtig sein. Ich persönlich bin aber sehr skeptisch, dass dieses Ergebnis Bestand haben wird. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Gruppe den Messfehler unterschätzt hat, und das Ergebnis tatsächlich mit den anderen Messungen – und dem Standardmodell – kompatibel ist.