Missing Link: Digitale Tatorterfassung bei der Polizei Berlin

Wir haben uns in Berlin, Stuttgart und München angesehen, wie Ermittler moderne Technologien für ihre Arbeit nutzen. Teil 1: Digitale Tatorterfassung.

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(Bild: Polizei Berlin / Joachim Edler)

Lesezeit: 16 Min.
Von
  • Ulrike Heitmüller
Inhaltsverzeichnis

Bei Ihnen wurde eingebrochen? Sie rufen 110, irgendwann kommt ein Polizist, schaut sich um, stellt ein paar Fragen und notiert alles mit Stift und Notizblock. Nach etwa einer Viertelstunde packt der Ordnungshüter wieder ein, steigt ins Auto und fährt zum nächsten Tatort. Irgendwann auf der Wache tippt er alles in den Computer. So ein Medienbruch ist nicht nur umständlich, sondern auch sehr fehleranfällig. Mit digitalen Hilfsmitteln soll die Arbeit der Ermittler einfacher und schneller werden. Das BKA und die Landeskriminalämter entwickeln neue Werkzeuge, von denen wir uns drei angesehen haben.

Gemeinsam ist den drei Projekten die Betonung auf Zusammenarbeit: Das INSITU-System von BKA und Polizei Berlin wird derzeit in einer agilen Methodik mit 20 Teams in ganz Deutschland im operativen Dienst getestet und sobald es steht, ermöglicht es die digitale Dokumentation im Mehrnutzerbetrieb. CAVE des LKA Baden-Württemberg ermöglicht einem Team aus unterschiedlichen Spezialisten, einen virtuellen Tatort gemeinsam aufzusuchen und dort direkt die Befunde miteinander zu diskutieren. Beim LKA Bayern entsteht ein "Holodeck", auf dem sogar bis zu 100 Personen kommunizieren können.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Während INSITU Teil des bundesweiten Digitalisierungsprojekts "P20" ist und für ganz Deutschland entwickelt wird, sind CAVE und das Holodeck eigenständige Projekte für Baden-Württemberg bzw. Bayern. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass BKA und Berliner Polizei mit INSITU eine Unterstützung für die polizeiliche Alltagsarbeit entwickeln. Stuttgart und München dagegen haben Systeme für "Schlimmeres" wie Großschadenslagen oder "zumindest" Morde – Systeme, die wahrscheinlich (hoffentlich) nicht täglich in Anspruch genommen werden müssen.

Bei INSITU handelt es sich um digitale Tatortdokumentation mit Mobilgeräten vor Ort (lat. "in situ"). Das soll Arbeitsprozesse optimieren und beschleunigen, den Zugriff auf Lagebilder in Echtzeit ermöglichen, und den Austausch von Informationen effizient und verlustfrei machen.

Zu der Dokumentation gehört ein Software-System aus drei Teilen: Eine Android-App speichert die Daten in einem lokalem NoSQL Document Store und synchronisiert den Datenbestand bei Bedarf mit dem zentralen INSITU-Server über eine verschlüsselte Verbindung. In der Web-Anwendung können Nutzer mit dem Browser digitale Tatortdaten auswerten. Damit kann man Daten räumlich und semantisch durchsuchen, Berichte schreiben und einen Tatort in 3D darstellen, in den man auch Punktwolken oder 3D-Meshes integrieren kann.

Ein Datenmodell repräsentiert die dokumentierten Objekte und Beziehungen in einem objektorientierten hierarchischen Graph-Modell, wobei jedes Objekt eine Kennung bekommt und mit anderen Objekten verknüpft werden kann. Klassen und Attribute speisen sich dabei aus dem X-Polizei-Standard, einem weiteren Innovationsprojekt im Rahmen von P20. Bund und Länder haben sich auf X-Polizei als einheitlichen fachlichen und technischen Standard für den polizeilichen Informationsaustausch geeinigt, der in neue Projekten für den länderübergreifenden polizeilichen Datenaustausch grundsätzlich eingesetzt werden soll.

Der Systemaufbau ist serverbasiert mit einem polizeilichen Zugriffs- und Rechtekonzept (Identity and Access Management, IAM), das im Rahmen von P20 auch modernisiert wird. Der Betrieb ist auf der Polizeiserviceplattform (PSP) im Datenhaus-Ökosystem konzipiert. Diese wird beim BKA gehostet und ist BSI-konform.

Bei INSITU sollen alle vor Ort anfallenden Informationen automatisiert in Bezug zueinander gesetzt und alle verfügbaren Daten in einem einzigen Tatortinformationsmodell vernetzt werden. Auf dieser Vernetzung basiert das Design der Web-Anwendung. Wählt ein Polizist beispielsweise ein Asservat aus, sieht er alle Fotos, Notizen und sonstigen Informationen, die zu dem Asservat vorliegen. Und wählt er ein Foto aus, sieht er, zu welchem Asservat oder Teil des Tatorts das Foto gehört.

Sind mehrere Polizisten vor Ort, können sie dank der Client-Server-Architektur die Informationen zwischen ihren Mobilgeräten in Echtzeit synchronisieren. Über die Web-Anwendung können sie Tatortdaten visualisieren, durchsuchen und auswerten; außerdem können sie dem Tatortmodell Daten und Informationen aus externen Quellen wie Digitalkameras hinzufügen. Dazu gehören dann nicht nur die Informationen, die sie vor Ort sammeln, sondern auch das, was für den weiteren Strafverfolgungsprozess dazukommt, wie Asservatenlisten, Handakten, Lichtbildmappen und Berichte.

Das sind einerseits Daten aus den gängigen Dokumentationsarten wie analoge Fotos, Notizen oder Skizzen. Dazu kommen Daten aus neuen Technologien wie Laserscanner oder 360°-Kameras, also etwa Panoramaaufnahmen, Punktwolken-Scans, Tatortgeometrie, Übersichtskarten und Geodaten, Audio-, Video- und Textdateien, DSLR-Fotos.

Die Gesamtprojektleitung liegt beim BKA, die fachliche Projektleitung bei der Polizei Berlin bei Juliane Joswig: "INSITU ist ein Projekt innerhalb des Riesenprogramms P20. Letztlich soll es die Tatortdokumentation werden, mit der alle 20 deutschen Polizeiorganisationen, inklusive Zoll, arbeiten. Und seine Nutzung soll den Ermittlerinnen und Ermittlern Spaß machen", sagt sie. In ihrem Team arbeiten Leute aus unterschiedlichen Polizeibereichen: zum Beispiel ein Schutzpolizist und jemand von der Mordkommission.