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Sichelzellkrankheit: Wie Forscher die richtige DNA-Stelle zur Heilung fanden

Antonio Regalado
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(Bild: Shutterstock)

Die Therapie hilft Menschen mit Sichelzellanämie. Sie korrigiert aber nicht einfach die verursachende Mutation, sondern heilt sozusagen "über Bande".​

Die weltweit erste kommerzielle Genscheren-Therapie wird das Leben von Menschen mit Sichelzellanämie verändern. Bisher gab es für die Krankheit, die in ihren akuten Phasen äußerst schmerzhaft ist, keine Heilung. Viele Patienten leben in ständiger Angst, zu sterben: entweder an einem akuten Anfall, wenn sichelförmig deformierte rote Blutkörperchen ihre Gefäße verstopfen, oder an den daraus folgenden, schleichend entstehenden Organschäden.

Mitte November hat das Vereinigte Königreich als erstes Land eine bahnbrechende Behandlung namens Casgevy dafür zugelassen. Die positive Behördenentscheidung in den USA [1] folgte kurze Zeit später Anfang Dezember. Die Gentherapie verwendet jene mit dem Nobelpreis ausgezeichnete molekulare Schere CRISPR [2], die die Journalisten oft um Metaphern ringen lässt: "Schweizer Armeemesser", "molekulares Skalpell" oder DNA-Kopieren und Einfügen sind nur ein paar Beispiele.

Das Revolutionäre an der CRISPR-Technologie ist weithin bekannt: Wissenschaftler können die Genschere ganz einfach programmieren, damit sie die DNA an gewünschten Stellen schneidet und damit zum Beispiel Gene abschaltet. Weniger bekannt ist, wie ihr kontraintuitiver Einsatz zum Durchbruch bei der Sichelzellkrankheit führte.

Denn um die Krankheit zu heilen, reparieren Vertex und sein Partnerunternehmen CRISPR Therapeutics, die die Behandlung anbieten, nicht die Genmutation selbst, die zur krank machenden Deformation des roten Blutfarbstoffmoleküls Hämoglobin führt. Stattdessen ist die neue Behandlung ein molekulares Spiel über Bande: Sie reaktiviert das fötale Hämoglobin, jene zweite Form des Moleküls, die wir nur im Mutterleib bilden und einige Monate nach der Geburt zu 99 Prozent verlieren.

Hämoglobin bindet normalerweise in den roten Blutkörperchen sitzend Sauerstoff und hilft so, den Körper damit zu versorgen. Allerdings lässt die Punktmutation einer einzelnen Base den Blutfarbstoff bei Sauerstoffmangel Fasern bilden. Dadurch verformen sich die roten Blutkörperchen sichelförmig, verklumpen und können Blutgefäße verstopfen. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern erschwert auch den Sauerstofftransport im Körper. Auslöser dieser akuten Phasen können etwa Infektionen und Fieber, Dehydrierung, große körperliche Anstrengung oder Medikamente sein.

Man kann sich die Wirkung der Gentherapie als eine Art doppeltes Negativ vorstellen: Die Entwickler programmierten die Genschere so, dass sie die Hemmung des fötalen Hämoglobins hemmt. So entsteht der fötale Blutfarbstoff wieder. Dafür fügten die Forschenden dem Genbauplan eines Boostermoleküls einen Rechtschreibfehler hinzu. Dieser Booster schaltet normalerweise die Produktion des Hemmerproteins an, tut das aber nach dem genetischen Eingriff nicht mehr.

"Indem man den Booster hemmt, hemmt man auch den Inhibitor", sagt Daniel Bauer, der am Bostoner Kinderkrankenhaus und an der Harvard University arbeitet und an der Entwicklung der Methode beteiligt war. "Es ist ziemlich kompliziert."

Das Wichtigste ist, dass es ein glückliches Ende gibt und diese Genveränderung wirklich funktioniert. Die ersten freiwilligen Probanden zeigten sich dankbar [3], nachdem sie ihr ganzes Leben mit der Krankheit gelebt haben, und sogar ein wenig schockiert darüber waren, endlich geheilt zu werden.

Die Idee, dass fötales Hämoglobin vor der Krankheit schützen kann, ist an sich nicht neu. Die Sichelzellanämie kommt bei Menschen afrikanischer Abstammung am häufigsten vor. 1948 stellte die Ärztin Janet Watson von Long Island fest, dass Neugeborene nie die Anzeichen der Krankheit zeigen – vor allem nicht die missgebildeten, sichelförmigen roten Blutkörperchen. Für eine angeborene Krankheit war das ziemlich merkwürdig.

"Die Sichelzellkrankheit sollte im Säuglingsalter genauso häufig auftreten wie später im Leben", schrieb Watson. Da dies jedoch nicht der Fall war, stellte sie die Hypothese auf, dass die fetale Form des Moleküls, die im Mutterleib aktiv war, die Babys für einige Monate nach der Geburt schützte, bis sie durch die Erwachsenenversion ersetzt wurde. "Die Theorie, die sich sofort aufdrängt, ist, dass das fötale Hämoglobin nicht in der Lage ist, Sichelzellenbildung zu verursachen."

Sie sollte Recht behalten. Aber es dauerte weitere sechs Jahrzehnte, bis klar war, wie die Umschaltung funktioniert und wie man sie wieder rückgängig machen kann. Viele dieser Entdeckungen gelangen im Labor von Stuart Orkin, einem Harvard-Forscher, der 1967 seine erste Arbeit veröffentlichte und mehrere Epochen der Erforschung von Blutkrankheiten miterlebt hat, beginnend bei den Anfängen der Molekularbiologie.

"Ich bin einer der Letzten, die noch da sind", sagt Orkin mit einem Grinsen, als ich ihn auf ein Corned-Beef-Sandwich treffe. Er ist ein kluger Wissenschaftler, der vor langer Zeit beschloss, die Regulation des Blutsystems zu erforschen. Logistisch gesehen war das ein großartiges Thema, denn Blutzellen sind leicht zu beschaffen und zu untersuchen. "Ich löse gerne ein Problem, und hier war ein Problem, das gelöst werden konnte", sagt Orkin. "Wie funktioniert das System, und kann man dann etwas dagegen tun?"

Das Sichelzellenprojekt von CRISPR Therapeutics, das vor acht Jahren mit der Entwicklung der Behandlung begann – Vertex kam später als Partner hinzu – griff direkt auf Orkins Erkenntnisse zurück, erzählt der ehemalige Chief Scientific Officer Bill Lundberg. "Die Rolle von Stu wird wirklich unterschätzt. Innerhalb weniger Jahre hat sein Labor eine Reihe von Experimenten durchgeführt, jedes Mal mit einem neuen Studenten – und jedes davon wurde in Science oder Nature veröffentlicht. Das war letztendlich die besondere Zutat, die wir verwendet haben."

Angesichts der Lobeshymnen, die in den Medien über CRISPR-Editing zu lesen sind, wissen viele nicht, dass es eher Narben in die Gene reißt, um sie abzuschalten, anstatt sie stilvoll zu überschreiben – auch wenn das bald der Fall [4] sein wird. Für die frühen CRISPR-Start-ups bedeutete dies, dass sie Gene finden mussten, die sie ausschalten konnten. Was konnten sie im Genom zerstören, um eine Krankheit rückgängig zu machen?

Drei Unternehmen – Editas, Intellia und CRISPR Therapeutics – erhielten um 2014 herum viel Unterstützung von Risikokapitalgebern. Für diese Start-ups schien allein der Gedanke, das Genom von Menschen zu verändern, radikal genug. "Ich habe gesagt: Lasst uns nicht die Probleme der Welt lösen. Lasst uns vereinfachen. Lasst uns fragen, was uns die Humangenetik lehrt, dass wir die Krankheit heilen können, wenn wir sie verändern", erinnert sich Lundberg an seine Treffen mit den Unternehmensgründern. "Und so kamen 50 Jahre Forschung über fötales Hämoglobin ins Spiel".

Die Sichelzellenanämie war ein attraktives Ziel. Sie ist die häufigste schwere genetische Erbkrankheit in den USA. Außerdem können die Stammzellen, aus denen die roten und weißen Blutkörperchen gebildet werden, aus dem Körper einer Person entnommen und dann per Knochenmarktransplantation wieder eingesetzt werden. Auf diese Weise wäre es nicht mehr notwendig, komplexe Technologien einzusetzen, um eine Therapie in den Körper von Patienten zu bringen. Das Ganze könnte einfach in einem Labor durchgeführt werden.

Genau so funktioniert die Behandlung von Vertex. Patienten werden mit einer Filtermaschine Stammzellen aus dem Blut entnommen. Dann fügt man den Zellen das CRISPR-Schneideprotein mit einem elektrischen Stromstoß hinzu, damit es das BCL11A-Gen kaputt machen kann und damit die Produktion von fötalem Hämoglobin ankurbelt. Anschließend erhalten die Patienten die bearbeiteten Zellen über einen Tropf wieder zurück. Die Stammzellen vermehren sich und beginnen, fötales Hämoglobin zu produzieren – genau wie bei den Neugeborenen, von denen Watson feststellte, dass sie nicht krank waren.

Das ist alles machbar, aber für die Patienten ist es auch ein anstrengendes Unterfangen. Eine Knochenmarktransplantation ist mit einer Chemotherapie verbunden. Die Ärzte müssen das alte Blutsystem der Patienten zerstören, um Platz für die bearbeiteten Stammzellen zu schaffen. Die Patienten werden viele Wochen im Krankenhaus verbringen und können durch die Behandlung unfruchtbar [5] werden. Es wird erwartet, dass sich nur Menschen mit den unerträglichsten Symptomen – vielleicht einer von zehn Sichelzellpatienten – für diese Behandlung entscheiden werden.

Trotzdem ist die Behandlung von Vertex ein großer Schritt und wir befinden uns jetzt in der Ära des kommerziellen Genom-Überschreibens. "Es ist ein riesiger Meilenstein in der Geschichte der Menschheit und ein wichtiges Sprungbrett für das, was in Zukunft möglich sein wird", sagt William Pao, ein ehemaliger Leiter der Arzneimittelentwicklung bei Pfizer. Er hat das Vertex-Medikament für ein geplantes Buch über die Zutaten medizinischer Durchbrüche [6] untersucht.

"Jedes Medikament, das jemals zugelassen wird, muss einen optimalen Punkt erreichen, eine Schnittmenge aus wissenschaftlichem, technischem und klinischem Verständnis", sagt Pao. "Sobald man diese erstaunliche Erkenntnis hat, stürzen sich alle darauf." Das ist auch der Grund dafür, dass neue Medikamente meist in Gruppen auftreten: Es gibt nicht nur ein neues Antidepressivum, sondern plötzlich fünf.

Das gilt auch für die Sichelzellkrankheit. Derzeit befinden sich zwei weitere Gentherapien in der Testphase, eine von Editas Medicines und eine von Beam Therapeutics. Sie versuchen ebenfalls, die Produktion von fötalem Hämoglobin zu erhöhen. Noch im Dezember könnte die US-Zulassungsbehörde FDA zudem eine Gentherapie von BlueBird Bio genehmigen, bei der eine komplette neue Kopie des Hämoglobin-Gens hinzugefügt wird.

Pao zufolge erhalten die Entstehungsgeschichten von neuen Medikamenten nicht genug Aufmerksamkeit. Die Leute sehen gerne Filme darüber, wie Mark Zuckerberg die Idee für Facebook gestohlen hat, oder erfahren, wie Jony Ive das iPhone entwickelt hat. "Aber bei Medikamenten sind die Namen schwer auszusprechen, die meisten Menschen wollen keine Medikamente einnehmen, und die Entwicklung dauert Jahrzehnte", sagt er. "Es ist nicht wie eine App, die man in der Hand hat."

Bei der Sichelzellkrankheit begann der Weg von der Entdeckung der Ursache zur Heilung 1910, als ein US-Arzt zum ersten Mal unter dem Mikroskop beobachtete, dass die roten Blutkörperchen eines Mannes aus Westindien die Sichelform aufwiesen. Größere Bekanntheit in wissenschaftlichen Kreisen erlangte die Krankheit 1949, als der Chemiker Linus Pauling, der zwei Nobelpreise erhalten sollte, einen atomaren Ladungsunterschied zwischen normalem und gesicheltem Hämoglobin feststellte. Die Entdeckung veranlasste ihn dazu, die Sichelzellkrankheit als "erste molekulare Krankheit" zu bezeichnen und den Beginn eines neuen Zeitalters der "wissenschaftlichen" Medizin auszurufen.

Auf der Suche nach einem Heilmittel kamen die Forscher immer wieder auf Watsons Beobachtung über fötales Hämoglobin zurück. Sie fanden heraus, dass jeder von uns eine kleine Menge der fötalen Version bildet: etwa ein Prozent unseres gesamten Hämoglobins, wobei die Menge von Mensch zu Mensch variieren kann. Anhand dieser Schwankungen konnten die Forscher die Auswirkungen des Hämoglobins bei Erwachsenen untersuchen, fast so, als ob es sich um ein Medikament handeln würde, das sie einnehmen. In den neunziger Jahren hatten Ärzte Sichelzellpatienten lange genug beobachtet, um festzustellen, dass sie umso länger lebten, je mehr fetales Hämoglobin sie hatten.

Die Frage war nur: Wie lässt sich die Produktion von fetalem Hämoglobin bei Erwachsenen ankurbeln? Es ist bekannt, dass fast alle Wirbeltiere vor der Geburt fötale Versionen von Hämoglobin produzieren. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich dabei um eine evolutionäre Anpassung handelt, um mehr Sauerstoff aus der Plazenta zu gewinnen. Doch obwohl die Hämoglobin-Gene bereits in den Achtzigerjahren gefunden und sequenziert worden waren, wussten die Forscher immer noch nicht, was die Ursache für den Produktionswechsel vom Fötus zum Erwachsenen ist.

Die Lösung brachte eine neue Gentechnologie. Nach Abschluss des Humangenomprojekts [7] hatten die Forscher begonnen, grobe genetische Karten für Tausende von Menschen zu erstellen. Auf diese Weise konnten sie kleine DNA-Unterschiede zwischen Menschen mit messbaren Unterschieden in ihrem Körper in Beziehung setzen: wie groß sie waren oder ob sie an bestimmten Krankheiten litten. Die neue Technik namens "genomweite Assoziation" war eine statistische Methode, die einflussreiche Genvarianten zählen konnte.

Die Assoziationstechnik führte ab 2007 zum Volltreffer bei der Sichelzellenanämie-Gensuche. So untersuchte etwa ein italienisches Team in einer Studie die DNA von Tausenden Amerikanern mit Sichelzellenanämie sowie von Sarden, von denen einige an einer anderen Hämoglobinstörung namens Beta-Thalassämie litten, die auf der Insel erschreckend häufig vorkommt. Als sie die Menge an fötalem Hämoglobin mit der DNA der Versuchspersonen verglichen, tauchten insbesondere in einem Gen immer wieder Abweichungen auf: BCL11A.

Das war eine völlige Überraschung. Es lag weit entfernt von den Hämoglobin-Sequenzen, nämlich auf einem ganz anderen Chromosom. Bis dahin war es vor allem für seine Verbindung zu einigen Krebsarten bekannt gewesen. "Kein noch so großer Blick auf die Sequenz hätte uns verraten, wonach wir suchen sollten", sagt Orkin. Aber das grelle Signal deutete darauf hin, dass es der Kontrollmechanismus sein könnte. Orkin veranschaulicht die Bedeutung dieses Hinweises gerne mit einem Zitat von Marcel Proust: "Die einzige wirkliche Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern neue Augen zu haben."

Nun richteten sich alle Augen auf BCL11A. Sehr schnell zeigten die Studenten und Auszubildenden von Orkin, dass es tatsächlich die Bildung von fötalem Hämoglobin steuern kann. Es handelte sich nämlich um den Bauplan eines sogenannten Transkriptionsfaktors, der das Ablesen und Umschreiben (Transkription) eines anderen Gens in Boten-RNA steuert. Indem sie BCL11A ausschalteten, konnten sie die Produktion von fötalem Hämoglobin in Zellen wieder in Gang bringen. 2011 zeigten sie, dass Mäuse auf diese Weise von der Sichelzellkrankheit geheilt werden konnten. "Das bedeutete, dass man einen Patienten heilen konnte, wenn man das mit ihm machen konnte", sagt Orkin.

Beim Menschen war es jedoch nicht so einfach, das Gen ganz abzuschalten. Wie sich herausstellte, ist BCL11A ein wichtiges Gen, und sein Verlust war für Mäuse letztlich nicht gut. Eine Studie ergab, dass die meisten Mäuse, denen es fehlte, innerhalb von sechs Monaten verstarben. Doch dann kam ein weiterer Glückstreffer. Denn die Treffer aus der Sardinien-Studie waren auf eine spezielle Region des BCL11A-Gens, dem sogenannten "erythroiden Verstärker", konzentriert, der nur während der Produktion roter Blutkörperchen aktiv ist.

Man kann es sich wie ein Gaspedal für BCL11A vorstellen, das aber ausschließlich dann zum Einsatz kommt, wenn eine Stammzelle rote Blutkörperchen herstellt. Das ist übrigens eine große Aufgabe, der Körper produziert jeden Tag einige Milliarden davon. "Es ist absolut zellspezifisch", sagt Orkin. Das bedeutete, dass man mit dem Gaspedal herumspielen konnte: "Wir sind vom gesamten Genom zu einer einzigen Stelle übergegangen, die wir therapeutisch nutzen können."

Nun begannen Forscher der Harvard University und ihrem Partnerunternehmen Sangamo Biosciences, eine Behandlung zu entwickeln. Sie durchlöcherten das Verstärker-Gen mit allen möglichen schädlichen Veränderungen, die sie erzeugen konnten – "wie mit einem Haufen Gewehrkugeln", sagt Bauer, der die Arbeit in Harvard machte. Schließlich fanden sie die perfekte Lösung: eine einzige störende Veränderung, die die Produktion von BCL11A um etwa 70 Prozent senkt und somit eine Zunahme des fötalen Hämoglobins ermöglicht.

Die Zielsequenz, ein kurzer Abschnitt von wenigen DNA-Buchstaben, kommt in den Genomen der meisten Menschen nicht vor. Das ist wichtig, denn wenn CRISPR einmal programmiert ist, schneidet es die passende Zielsequenz jedes Mal, wenn es darauf stößt, egal ob man es will oder nicht. Das Erzeugen unbeabsichtigter zusätzlicher Schnitte gilt als gefährlich, aber Bauer sagt, er habe nur eine solche "Off-Target"-Stelle [8] gefunden, die nach seinen Schätzungen in den Genomen von etwa zehn Prozent von Afroamerikanern vorkommt.

Diese Stelle befindet sich jedoch nicht in einem Gen, sodass versehentliche Änderungen dort nicht ins Gewicht fallen dürften. Bauer ist der Ansicht, dass das Risiko, wie hoch es auch sein mag, wahrscheinlich viel geringer ist als die Gefahr, die von einer Sichelzellenkrankheit ausgeht.

Vieles deutet darauf hin, dass Orkins Labor damit den perfekten Schnitt gefunden hatte – also einen, der nicht so einfach verbessert werden kann. Sein Arbeitgeber, das Boston Children's Hospital, ließ die Entdeckungen patentieren. CRISPR Therapeutics und Vertex erwarben die Nutzungsrechte daran. Sie werden wahrscheinlich auch Lizenzgebühren zahlen, wenn die Behandlung auf den Markt kommt. Orkin vermutet, dass die Unternehmen zunächst versucht hatten, selbst eine Alternative zu entwickeln – also einen anderen, nahe gelegenen Schnitt – aber letztlich keinen Erfolg hatten. "Das Ganze gehört uns."

Die Umsetzung dieses Glücksfalls in eine reale Gentech-Behandlung war die größere, komplexere Aufgabe und sie war nicht billig. Nach Angaben von Solt DB, einem Finanzanalysten für Biotech-Unternehmen, zeigen Finanzberichte von CRISPR Therapeutics, dass die Herstellung der Behandlung, die Rekrutierung von Krankenhäusern und die Erprobung an etwa 90 Personen in einer Studie bisher mehr als eine Milliarde Dollar gekostet haben.

Das ist eine sehr große Investition in ein Produkt. Zum Vergleich: Es ist mehr als das Doppelte dessen, was Tesla [9] vor der Markteinführung seines ersten Elektroautos, den Roadster, ausgegeben hat. Allerdings könnte auch die Rendite hoch sein. Nachdem die FDA die Behandlung genehmigt hat, will Vertex bald einen Preis bekannt geben. Spekulationen zufolge könnte die Behandlung bis zu drei Millionen Dollar kosten, wobei die Krankenhausaufenthalte nicht eingerechnet sind.

Orkin ist bereit, den Unternehmen für ihre rasche Entwicklung des Heilmittels Anerkennung zu zollen. Schließlich haben sie gerade mal acht Jahre gebraucht. Dabei hat allerdings viel geholfen, dass sie den perfekten Schnitt hatten. "Für mich war die gesamte Entdeckung 2015 abgeschlossen. Wir haben festgelegt, wie es geht, und dann ging es um die Umsetzung", sagt er. "Aber die Unternehmen haben alles perfekt umgesetzt, und das machen nicht alle."

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(jle [11])


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.fda.gov/news-events/press-announcements/fda-approves-first-gene-therapies-treat-patients-sickle-cell-disease
[2] https://www.heise.de/news/Genschere-Chemie-Nobelpreis-an-Emmanuelle-Charpentier-und-Jennifer-Doudna-4923108.html
[3] https://www.heise.de/hintergrund/Patient-nach-CRISPR-Therapie-Ich-bin-fuer-meine-Behandlung-sehr-dankbar-9549408.html
[4] https://www.heise.de/hintergrund/Bluthochdruck-und-Diabetes-Kann-Gentechnik-CRISPR-bei-Volkskrankheiten-helfen-7464115.html
[5] https://www.statnews.com/2023/12/06/sickle-cell-infertility-crispr-vertex-casgevy-bluebird/
[6] https://oneworld-publications.com/work/breakthrough/
[7] https://www.heise.de/hintergrund/Gen-Puzzle-der-Menschheit-Genom-Karte-will-alle-genetischen-Variationen-zeigen-9015901.html
[8] https://www.heise.de/blog/Panikmache-hilft-niemandem-3771136.html
[9] https://www.heise.de/thema/Tesla
[10] https://www.instagram.com/technologyreview_de/
[11] mailto:jle@heise.de