Sichelzellkrankheit: Wie Forscher die richtige DNA-Stelle zur Heilung fanden

Die Therapie hilft Menschen mit Sichelzellanämie. Sie korrigiert aber nicht einfach die verursachende Mutation, sondern heilt sozusagen "über Bande".​

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(Bild: Shutterstock)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Die weltweit erste kommerzielle Genscheren-Therapie wird das Leben von Menschen mit Sichelzellanämie verändern. Bisher gab es für die Krankheit, die in ihren akuten Phasen äußerst schmerzhaft ist, keine Heilung. Viele Patienten leben in ständiger Angst, zu sterben: entweder an einem akuten Anfall, wenn sichelförmig deformierte rote Blutkörperchen ihre Gefäße verstopfen, oder an den daraus folgenden, schleichend entstehenden Organschäden.

Mitte November hat das Vereinigte Königreich als erstes Land eine bahnbrechende Behandlung namens Casgevy dafür zugelassen. Die positive Behördenentscheidung in den USA folgte kurze Zeit später Anfang Dezember. Die Gentherapie verwendet jene mit dem Nobelpreis ausgezeichnete molekulare Schere CRISPR, die die Journalisten oft um Metaphern ringen lässt: "Schweizer Armeemesser", "molekulares Skalpell" oder DNA-Kopieren und Einfügen sind nur ein paar Beispiele.

Das Revolutionäre an der CRISPR-Technologie ist weithin bekannt: Wissenschaftler können die Genschere ganz einfach programmieren, damit sie die DNA an gewünschten Stellen schneidet und damit zum Beispiel Gene abschaltet. Weniger bekannt ist, wie ihr kontraintuitiver Einsatz zum Durchbruch bei der Sichelzellkrankheit führte.

Denn um die Krankheit zu heilen, reparieren Vertex und sein Partnerunternehmen CRISPR Therapeutics, die die Behandlung anbieten, nicht die Genmutation selbst, die zur krank machenden Deformation des roten Blutfarbstoffmoleküls Hämoglobin führt. Stattdessen ist die neue Behandlung ein molekulares Spiel über Bande: Sie reaktiviert das fötale Hämoglobin, jene zweite Form des Moleküls, die wir nur im Mutterleib bilden und einige Monate nach der Geburt zu 99 Prozent verlieren.

Hämoglobin bindet normalerweise in den roten Blutkörperchen sitzend Sauerstoff und hilft so, den Körper damit zu versorgen. Allerdings lässt die Punktmutation einer einzelnen Base den Blutfarbstoff bei Sauerstoffmangel Fasern bilden. Dadurch verformen sich die roten Blutkörperchen sichelförmig, verklumpen und können Blutgefäße verstopfen. Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern erschwert auch den Sauerstofftransport im Körper. Auslöser dieser akuten Phasen können etwa Infektionen und Fieber, Dehydrierung, große körperliche Anstrengung oder Medikamente sein.

Man kann sich die Wirkung der Gentherapie als eine Art doppeltes Negativ vorstellen: Die Entwickler programmierten die Genschere so, dass sie die Hemmung des fötalen Hämoglobins hemmt. So entsteht der fötale Blutfarbstoff wieder. Dafür fügten die Forschenden dem Genbauplan eines Boostermoleküls einen Rechtschreibfehler hinzu. Dieser Booster schaltet normalerweise die Produktion des Hemmerproteins an, tut das aber nach dem genetischen Eingriff nicht mehr.

"Indem man den Booster hemmt, hemmt man auch den Inhibitor", sagt Daniel Bauer, der am Bostoner Kinderkrankenhaus und an der Harvard University arbeitet und an der Entwicklung der Methode beteiligt war. "Es ist ziemlich kompliziert."

Das Wichtigste ist, dass es ein glückliches Ende gibt und diese Genveränderung wirklich funktioniert. Die ersten freiwilligen Probanden zeigten sich dankbar, nachdem sie ihr ganzes Leben mit der Krankheit gelebt haben, und sogar ein wenig schockiert darüber waren, endlich geheilt zu werden.

Die Idee, dass fötales Hämoglobin vor der Krankheit schützen kann, ist an sich nicht neu. Die Sichelzellanämie kommt bei Menschen afrikanischer Abstammung am häufigsten vor. 1948 stellte die Ärztin Janet Watson von Long Island fest, dass Neugeborene nie die Anzeichen der Krankheit zeigen – vor allem nicht die missgebildeten, sichelförmigen roten Blutkörperchen. Für eine angeborene Krankheit war das ziemlich merkwürdig.

"Die Sichelzellkrankheit sollte im Säuglingsalter genauso häufig auftreten wie später im Leben", schrieb Watson. Da dies jedoch nicht der Fall war, stellte sie die Hypothese auf, dass die fetale Form des Moleküls, die im Mutterleib aktiv war, die Babys für einige Monate nach der Geburt schützte, bis sie durch die Erwachsenenversion ersetzt wurde. "Die Theorie, die sich sofort aufdrängt, ist, dass das fötale Hämoglobin nicht in der Lage ist, Sichelzellenbildung zu verursachen."

Sie sollte Recht behalten. Aber es dauerte weitere sechs Jahrzehnte, bis klar war, wie die Umschaltung funktioniert und wie man sie wieder rückgängig machen kann. Viele dieser Entdeckungen gelangen im Labor von Stuart Orkin, einem Harvard-Forscher, der 1967 seine erste Arbeit veröffentlichte und mehrere Epochen der Erforschung von Blutkrankheiten miterlebt hat, beginnend bei den Anfängen der Molekularbiologie.

"Ich bin einer der Letzten, die noch da sind", sagt Orkin mit einem Grinsen, als ich ihn auf ein Corned-Beef-Sandwich treffe. Er ist ein kluger Wissenschaftler, der vor langer Zeit beschloss, die Regulation des Blutsystems zu erforschen. Logistisch gesehen war das ein großartiges Thema, denn Blutzellen sind leicht zu beschaffen und zu untersuchen. "Ich löse gerne ein Problem, und hier war ein Problem, das gelöst werden konnte", sagt Orkin. "Wie funktioniert das System, und kann man dann etwas dagegen tun?"

Das Sichelzellenprojekt von CRISPR Therapeutics, das vor acht Jahren mit der Entwicklung der Behandlung begann – Vertex kam später als Partner hinzu – griff direkt auf Orkins Erkenntnisse zurück, erzählt der ehemalige Chief Scientific Officer Bill Lundberg. "Die Rolle von Stu wird wirklich unterschätzt. Innerhalb weniger Jahre hat sein Labor eine Reihe von Experimenten durchgeführt, jedes Mal mit einem neuen Studenten – und jedes davon wurde in Science oder Nature veröffentlicht. Das war letztendlich die besondere Zutat, die wir verwendet haben."

Angesichts der Lobeshymnen, die in den Medien über CRISPR-Editing zu lesen sind, wissen viele nicht, dass es eher Narben in die Gene reißt, um sie abzuschalten, anstatt sie stilvoll zu überschreiben – auch wenn das bald der Fall sein wird. Für die frühen CRISPR-Start-ups bedeutete dies, dass sie Gene finden mussten, die sie ausschalten konnten. Was konnten sie im Genom zerstören, um eine Krankheit rückgängig zu machen?