Sichelzellkrankheit: Wie Forscher die richtige DNA-Stelle zur Heilung fanden

Seite 3: Alle Augen auf BCL11A

Inhaltsverzeichnis

Nun richteten sich alle Augen auf BCL11A. Sehr schnell zeigten die Studenten und Auszubildenden von Orkin, dass es tatsächlich die Bildung von fötalem Hämoglobin steuern kann. Es handelte sich nämlich um den Bauplan eines sogenannten Transkriptionsfaktors, der das Ablesen und Umschreiben (Transkription) eines anderen Gens in Boten-RNA steuert. Indem sie BCL11A ausschalteten, konnten sie die Produktion von fötalem Hämoglobin in Zellen wieder in Gang bringen. 2011 zeigten sie, dass Mäuse auf diese Weise von der Sichelzellkrankheit geheilt werden konnten. "Das bedeutete, dass man einen Patienten heilen konnte, wenn man das mit ihm machen konnte", sagt Orkin.

Beim Menschen war es jedoch nicht so einfach, das Gen ganz abzuschalten. Wie sich herausstellte, ist BCL11A ein wichtiges Gen, und sein Verlust war für Mäuse letztlich nicht gut. Eine Studie ergab, dass die meisten Mäuse, denen es fehlte, innerhalb von sechs Monaten verstarben. Doch dann kam ein weiterer Glückstreffer. Denn die Treffer aus der Sardinien-Studie waren auf eine spezielle Region des BCL11A-Gens, dem sogenannten "erythroiden Verstärker", konzentriert, der nur während der Produktion roter Blutkörperchen aktiv ist.

Man kann es sich wie ein Gaspedal für BCL11A vorstellen, das aber ausschließlich dann zum Einsatz kommt, wenn eine Stammzelle rote Blutkörperchen herstellt. Das ist übrigens eine große Aufgabe, der Körper produziert jeden Tag einige Milliarden davon. "Es ist absolut zellspezifisch", sagt Orkin. Das bedeutete, dass man mit dem Gaspedal herumspielen konnte: "Wir sind vom gesamten Genom zu einer einzigen Stelle übergegangen, die wir therapeutisch nutzen können."

Nun begannen Forscher der Harvard University und ihrem Partnerunternehmen Sangamo Biosciences, eine Behandlung zu entwickeln. Sie durchlöcherten das Verstärker-Gen mit allen möglichen schädlichen Veränderungen, die sie erzeugen konnten – "wie mit einem Haufen Gewehrkugeln", sagt Bauer, der die Arbeit in Harvard machte. Schließlich fanden sie die perfekte Lösung: eine einzige störende Veränderung, die die Produktion von BCL11A um etwa 70 Prozent senkt und somit eine Zunahme des fötalen Hämoglobins ermöglicht.

Die Zielsequenz, ein kurzer Abschnitt von wenigen DNA-Buchstaben, kommt in den Genomen der meisten Menschen nicht vor. Das ist wichtig, denn wenn CRISPR einmal programmiert ist, schneidet es die passende Zielsequenz jedes Mal, wenn es darauf stößt, egal ob man es will oder nicht. Das Erzeugen unbeabsichtigter zusätzlicher Schnitte gilt als gefährlich, aber Bauer sagt, er habe nur eine solche "Off-Target"-Stelle gefunden, die nach seinen Schätzungen in den Genomen von etwa zehn Prozent von Afroamerikanern vorkommt.

Diese Stelle befindet sich jedoch nicht in einem Gen, sodass versehentliche Änderungen dort nicht ins Gewicht fallen dürften. Bauer ist der Ansicht, dass das Risiko, wie hoch es auch sein mag, wahrscheinlich viel geringer ist als die Gefahr, die von einer Sichelzellenkrankheit ausgeht.

Vieles deutet darauf hin, dass Orkins Labor damit den perfekten Schnitt gefunden hatte – also einen, der nicht so einfach verbessert werden kann. Sein Arbeitgeber, das Boston Children's Hospital, ließ die Entdeckungen patentieren. CRISPR Therapeutics und Vertex erwarben die Nutzungsrechte daran. Sie werden wahrscheinlich auch Lizenzgebühren zahlen, wenn die Behandlung auf den Markt kommt. Orkin vermutet, dass die Unternehmen zunächst versucht hatten, selbst eine Alternative zu entwickeln – also einen anderen, nahe gelegenen Schnitt – aber letztlich keinen Erfolg hatten. "Das Ganze gehört uns."

Die Umsetzung dieses Glücksfalls in eine reale Gentech-Behandlung war die größere, komplexere Aufgabe und sie war nicht billig. Nach Angaben von Solt DB, einem Finanzanalysten für Biotech-Unternehmen, zeigen Finanzberichte von CRISPR Therapeutics, dass die Herstellung der Behandlung, die Rekrutierung von Krankenhäusern und die Erprobung an etwa 90 Personen in einer Studie bisher mehr als eine Milliarde Dollar gekostet haben.

Das ist eine sehr große Investition in ein Produkt. Zum Vergleich: Es ist mehr als das Doppelte dessen, was Tesla vor der Markteinführung seines ersten Elektroautos, den Roadster, ausgegeben hat. Allerdings könnte auch die Rendite hoch sein. Nachdem die FDA die Behandlung genehmigt hat, will Vertex bald einen Preis bekannt geben. Spekulationen zufolge könnte die Behandlung bis zu drei Millionen Dollar kosten, wobei die Krankenhausaufenthalte nicht eingerechnet sind.

Orkin ist bereit, den Unternehmen für ihre rasche Entwicklung des Heilmittels Anerkennung zu zollen. Schließlich haben sie gerade mal acht Jahre gebraucht. Dabei hat allerdings viel geholfen, dass sie den perfekten Schnitt hatten. "Für mich war die gesamte Entdeckung 2015 abgeschlossen. Wir haben festgelegt, wie es geht, und dann ging es um die Umsetzung", sagt er. "Aber die Unternehmen haben alles perfekt umgesetzt, und das machen nicht alle."

(jle)