Geese gegen Google: Die EU gegen die mächtigste Suchmaschine der Welt

Seite 3: Das spektakuläre Labyrinth

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Am nächsten Morgen um acht Uhr holt Geese sich in einem Parlamentsbistro den ersten Kaffee des Tages. Die Ergebnisse der Abstimmung sind da. Der Artikel 24b gegen bildbasierte sexuelle Gewalt, für den sie im Parlament geworben hat, ist durchgekommen. Er ist jetzt Teil des Kompromissvorschlags des IMCO. Wenn er es auch durch die Abstimmung im Parlament und durch den Trilog schafft, wird er Gesetz für die ganze EU. "Ich weiß, die EU ist kompliziert und unsexy. Unsexy – aber spektakulär! Hier einigen sich 27 Staaten auf ein Gesetz. Staaten, die sich früher bekriegt haben", erzählt sie auf dem Weg zu einer Pressekonferenz mit Christl Schaldemose, der Berichterstatterin.

Über die EU werden viele Witze gemacht: über die Bürokratie, über die zähen Prozesse, über die unzähligen Normen. Schon das Gebäude erinnert an das Brettspiel Das verrückte Labyrinth: Manche Rolltreppen überspringen eine Etage, gelegentlich trifft man Abgeordnete, die ihre eigenen Büros nicht finden. Die 60-Sekunden-Reden, im monotonen Sprech von 23 Übersetzern, allgegenwärtig auf Bildschirme im ganzen Haus übertragen, schaffen die Atmosphäre einer multimedialen Kunstinstallation. Die Parlamentarier, Mitarbeiter und Lobbyisten in ihren Anzügen und Kostümen, mit ihren Aktentaschen und Handys, sind immer auf dem Weg irgendwohin, schreiben noch schnell jemandem, nicken kurz, müssen weiter. Sie müssen die Politikmaschine am Laufen halten, in der sie Rädchen sind.

Das Europäische Parlament ist eine Welt für sich. Hier regeln 27 Staaten ihre Angelegenheiten. EU-Parlamentarierin Alexandra Geese ist mittendrin.

(Bild: mauritius images / olrat / Alamy)

Zwischen dem Pappaufsteller von Winston Churchill und dem Sprachengewirr in den Cafés spürt man aber auch das, was Geese spektakulär findet: Wie außergewöhnlich es ist, dass 27 Staaten hier ihre Angelegenheiten bürokratisch regeln, in einem professionellen Politbetrieb, so fremd, kompliziert und langwierig er sich auch anfühlen mag.

In derselben Woche, in der der IMCO-Ausschuss über den DSA abstimmt, wird im Parlament übrigens auch über die Lage in der Ukraine debattiert: Krieg steht im Raum, die russische Invasion mit über hunderttausend Soldaten – undenkbar innerhalb der EU. Die Tochter des russischen Oppositionellen Alexey Nawalny ist zu Besuch in Straßburg. Die 21-Jährige nimmt einen Preis für ihren Vater entgegen, den er selbst nicht entgegennehmen kann, weil er in einem russischen Gefängnis sitzt. Die Abgeordneten wirken bewegt von ihrer Rede.

Nach der Pressekonferenz will Geese frische Luft schnappen und sich Zahnpasta kaufen, sie hat ihre in Brüssel vergessen. Der Park vor dem Parlament ist dunkel, das Knirschen der Schritte auf dem Schotter verliert sich im Nebel zusammen mit dem Licht der Straßenlaternen. Während sie zwei Runden im Park dreht, erzählt sie, was sie antreibt: Ihre Mutter hat mit 14 Jahren angefangen zu arbeiten und wurde eine geschiedene, stolze Friseurmeisterin. "Dass ich Abitur machen durfte, galt schon als Sensation", sagt Geese. Als Jugendliche sei sie auf Demos gegangen, gegen Atomkraftwerke und den Nato-Doppelbeschluss. Mit 19 zieht sie nach Italien und arbeitet dort 22 Jahre als Dolmetscherin. Neben ihrem Job erzieht sie alleine zwei Kinder, macht zwei Uni-Abschlüsse. 2010, mit Anfang 40, geht sie zurück nach Deutschland, setzt sich noch mal in den Hörsaal "zwischen lauter 25-Jährige…" und macht noch einen Master im Konferenzdolmetschen, tritt den Grünen bei. 2015 kriegt sie einen Job als Dolmetscherin bei der Europäischen Union. Bei der nächsten EU-Wahl, 2019, kandidiert sie auf Listenplatz 17 und schafft es als Abgeordnete ins Parlament.

Fast schon bezeichnend sind die vielen Flure im Parlamentsgebäude der EU. Vor allem auf Neulinge wirkt die Innenarchitektur unübersichtlich, nicht wenige verlaufen sich.

(Bild: European Union 2019, Mathieu Cugnot)

Mit ihrem Lebenslauf ist sie eine Ausnahme in einem EU-Parlament, in dem rund 60 Prozent Männer sitzen, in dem ein Viertel der Abgeordneten einen Doktortitel hat und das sich "generell aus den oberen Kategorien des sozialen Raums" zusammensetzt, wie eine Studie der Universität Lyon und Straßburg von 2013 es formuliert. "Ich bin nicht mit einer Bibliothek im Wohnzimmer aufgewachsen, deswegen fand ich das Internet so cool. Als ich dann gemerkt habe, dass das umschlägt, dass Leuten wie mir der Zugang verwehrt wird, war das ein Schock", erzählt sie. Vor allem Frauen, so die Hate Aid Studie, ziehen sich aus Angst vor Attacken von Social Media zurück. Das große Thema der 2010er-Jahre aber war Datenschutz. Auf Konferenzen ihrer Partei seien "soziale Netzwerke null thematisiert worden. Und ich dachte mir: Da kann ich noch was tun", so Geese.