United Airlines: Boeing hat "Jahrzehnte-Problem"

Sicherheitsprobleme bei Boeing wirken sich zunehmend auf das Geschäft aus. Neue Flugzeuge kommen später oder womöglich von Mitbewerber Airbus.​

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Flugzeugsitze, daneben ein großes Loch im Rumpf

Loch im Rumpf einer praktisch neuen Boeing 737 MAX 9

(Bild: NTSB)

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Inhaltsverzeichnis

Der Flugzeughersteller Boeing stürzt immer tiefer in seine selbstgemachte Krise. Nun droht sogar der Verlust von Geschäft an Mitbewerber Airbus. Nach einem lebensgefährlichen Loch in einer Boeing 737 MAX 9 und Vorwürfen mangelhafter Kooperation bei der folgenden Untersuchung verzögern sich die Zulassungen neuer Flugzeugvarianten 737 MAX 7 und 737 MAX 10. Die US-Luftfahrtbehörde FAA muss genauer hinschauen und ist nicht mehr so freizügig bei der Vergabe von Ausnahmegenehmigungen oder dem Durchwinken von Selbstzertifizierungen wie einst.

Vorzeigekunde für die Boeing 737 MAX 10 sollte United Airlines sein, eine der größten Fluggesellschaften der Welt. Zur Vorstellung der 737 MAX 10 im Juni 2017 bestellte United gleich hundert Stück des Flugzeugs, die ab Ende 2020 in Betrieb gehen sollten. Später vergrößerte United die Bestellung auf 277 Flugzeuge mit Option auf weitere 200. Die 737 MAX 10 soll etwa 1,7 Meter länger sein als die 737 MAX 9, und 230 Passagiere befördern können, zehn mehr. Doch konnte Boeing bis heute keine Betriebsgenehmigung für 737 MAX 10 erwirken; gleiches gilt für die kleinere Variante 737 MAX 7.

Nach dem Loch in der 737 MAX 9 hat die FAA (Federal Aviation Administration) Teile der laufenden Produktion bei Boeing sowie einem von über 600 Zulieferern, der ehemaligen Tochterfirma Spirit Aerosystems, überprüft. Das Ergebnis ist verheerend. Von 89 Prüfungen ist Boeing bei 33 durchgefallen, mit insgesamt 97 Verletzungen von Sicherheitsvorschriften. Spirit konnte von 13 Überprüfungen überhaupt nur sechs bestehen. Da musste auch Boeing eingestehen, dass so bald keine neuen Boeing-Modelle starten werden.

Am Dienstag mussten sowohl United Airlines als auch Boeing-Dauerkunde Southwest Airlines an die Öffentlichkeit gehen: "Wir haben Boeing gebeten, den Bau von MAX 10 zu stoppen, was sie getan haben, und mit MAX 9 zu beginnen", sagte United-CEO Scott Kirby, "Es ist unmöglich, zu sagen, wann die MAX 10 genehmigt wird." Doch selbst Uniteds Ersatzbestellung von MAX 9 ist Boeing nicht sicher: "Wir sind interessiert an Airbus 321, und wenn wir einen Deal bekommen, der wirtschaftlich funktioniert, werden wir etwas tun", sagte er zu Börsenanalysten, "Wenn nicht, dann nicht, und wir werden mehr MAX 9 haben." Bereits vergangene Woche hat United die Einstellung neuer Piloten gestoppt.

Southwest sagt in einer aktuellen Börsenmitteilung vom Dienstag, dass die 21 erwarteten 737 MAX 7 dieses Jahr nicht eintreffen werden. Schlimmer noch: Auch bei den seit 2017 ausgelieferten 737 MAX 8 kann Boeing die Verträge nicht einhalten. Statt 58 dieser Flugzeuge soll Southwest im laufenden Jahr nur noch 46 erhalten. Damit fehlen der großen US-Fluggesellschaft, die ausschließlich bei Boeing einkauft, 42 Prozent der für 2024 geplanten Flottenzugänge. Das erzwingt Kürzungen im Flugplan. Southwest ist am Dienstag an der New Yorker Börse NASDAQ rund 15 Prozent gefallen, Boeing vier Prozent, United rund zwei Prozent.

Zum Vergleich: Aktien von Delta Airlines legten am Dienstag leicht zu. Diese Firma hat Bloomberg verraten, dass es 737 MAX 10 erst für 2027 erwartet. United-Chef Kirby zeigte sich sogar "froh" über die zusätzliche Verspätung. Denn endlich nehme sich Boeing Zeit, die Qualitätsmängel anzugehen. "Das ist keine Sache von 12 Monaten, das ist ein Zwei-Jahrzehnte-Probleme", meint Kirby, "Mir ist lieber, dass Boeing tut, was sie müssen, und das tun sie jetzt."

In der Tat ist es circa zwei Jahrzehnte her, dass Harry Stonecipher CEO bei Boeing war. Bereits ab 1997 war er dort President und Chief Operating Officer – und stolz darauf, die Unternehmenskultur bei Boeing umgepolt zu haben: "Wenn die Leute sagen, ich habe Boeings Kultur geändert – das war das Ziel, damit es wie ein Business läuft anstatt als tolle Technikfirma."

Offloading war sein Credo, besser bekannt als Outsourcing. Boeing zog sich sowohl aus der Entwicklung als auch aus der Herstellung immer weiter zurück. Schon 2001 warnte Boeing-Ingenieur John Hart-Smith in einem internen Whitepaper vor dem Risiko der Outsourcing-Strategie. Das focht Stonecipher nicht an, denn er konnte die Finanzen kurzfristig aufbessern. Seit seinem Amtsantritt als Boeing-President hat die Firma mehr als 60 Milliarden US-Dollar für den Kauf eigener Aktien ausgegeben. Das stützt den Aktienkurs, was dem Management sicher nicht schadet, doch fehlt das Geld dann an anderer Stelle, etwa bei der Qualitätssicherung oder der Entwicklung einer neuen Generation von Flugzeugen. Stattdessen hat sich Boeing darauf versteift, die alte 737 immer länger zu machen.

Heute hat eine Boeing 737 MAX hat laut Econlife mehr als 600 Lieferanten, die ihrerseits wieder hunderte Subunternehmen beauftragen. Bei so vielen Lieferanten und deren Lieferanten in aller Welt wird die Qualitätskontrolle zur Herkulesaufgabe. Sogar den Rumpf der Flugzeuge kauft Boeing extern ein, bei Spirit Aerosystems, die aus einer ehemaligen Boeing-Abteilung hervorgegangen ist. Erst jetzt denkt Boeing laut darüber nach, sich Spirit Aerosystems wieder einzuverleiben.

Die Abstürze zweier Flugzeuge der Baureihe 737 Max 8 im Oktober 2018 und März 2019 führten damals zwar zu hunderten toten Passagieren sowie Lippenbekenntnissen Boeings, aber offenbar keinem umfassenden Umdenken. Zwei Sicherheitsmaßnahmen könnten weitere Katastrophen der gleichen Art verhindern: Der Einbau eines weiteren Sensors sowie eines Schalters, mit dem absichtliches, aber verwirrendes Gerüttel des Steuerknüppels vorübergehend unterbunden werden kann.

Doch Boeing wollte das nicht bezahlen und investierte stattdessen in Interventionen bei US-Politikern. Mit Erfolg: Die Sicherheitsmaßnahmen für Boeing 737 MAX wurden per Gesetz aufgeschoben. Erst drei Jahre nach der Typengenehmigung der 737 MAX 10 muss Boeing diese Verbesserungen vornehmen. Und wann diese Genehmigung kommt, weiß niemand. Einen Strafprozess vermied Boeing durch eine Milliardenzahlung.

"Das Boeing-Problem wird nicht gelöst, bevor es echte Konsequenzen für die Top-Manager und die Verwaltungsratsmitglieder persönlich gibt", ging die Seattle Times vor zwei Monaten mit dem Konzern ins Gericht. In Seattle wurde Boeing 1916 gegründet, und baut dort bis heute Flugzeuge aus angelieferten Teilen zusammen. "Eine Rückkehr zur Kultur technischer Exzellenz und eine Reduktion des Outsourcing-Modells könnte zu viel verlangt sein von einer Firma, die sich diesem Geschäftsmodell so verschrieben hat. Aber es muss passieren, oder es wird mehr tödliche Vorfälle geben."

Diese Woche ruft ein weiterer Todesfall schwere Vorwürfe gegen Boeing in Erinnerung: Whistleblower John Barnett ist am Samstag mit einer Schusswunde tot aufgefunden worden. Die Polizei geht von Selbstverschulden aus.

Fast drei Jahrzehnte arbeitete Barnett für die Firma, bis er 2017 in den Ruhestand trat. Ab 2010 war der Mann im Boeing-Werk in Charleston, South Carolina, bei der Qualitätssicherung bei Flugzeugen des Typs Boeing 787 "Dreamliner" tätig. 2017 legte er Beschwerde gegen Boeing ein. Er gab an, mehrere sicherheitsrelevante Probleme gemeldet zu haben, beispielsweise den Verdacht des Einbaus schadhafter Teile oder die Fehlfunktion jeder vierten Sauerstoffmaske.

"Ich habe noch kein Flugzeug Charleston verlassen sehen, für das ich mit meinen Namen bürgen wurde, um zu sagen, dass es sicher und flugtauglich ist", sagte Barnett 2019 zur New York Times. Boeings Management habe trotz wiederholter Meldungen keine angemessenen Maßnahmen ergriffen. Stattdessen sei er, Barnett, isoliert und schlecht behandelt worden.

Boeing stellt sowohl den Vorwurf arbeitsrechtlicher Verfehlungen als auch den Vorwurf unsicherer Boeing 787 in Abrede. Der arbeitsrechtliche Prozess ist für Juni anberaumt. Donnerstag und Freitag wurde Barnett in Charleston prozessvorbereitend einvernommen. Am Samstag sollte der 62-Jährige weiter aussagen.

(ds)